Ballerina Marta Cinta:Suchbild mit Tänzerin

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Aus dem Nachlass von Marta Cinta, die im März in einer Senioreneinrichtung starb, lassen sich einige Stationen ihres Lebens rekonstruieren. Manches bleibt hinter Retuschen verborgen. (Foto: Asociación Música para Despertar/Collage: SZ)

Ein Video über Demenztherapie macht die ehemalige Ballerina Marta Cinta posthum berühmt. Die Anteilnahme ist enorm. Aber wer war diese Frau wirklich? Ballettfans weltweit machen sich auf die Suche.

Von Dorion Weickmann

Soviel Beifall wurde ihr zeitlebens nicht zuteil: Millionenfache Aufrufe, hingerissene Kommentare, Ergriffenheit auf allen Social-Media-Kanälen. Marta Cinta - mit vollem Namen: Marta Cinta González Saldaña - wurde in den vergangenen Wochen zum Star. Postum, und ohne dass sie selbst noch bewusst hätte dazu beitragen können. Die ehemalige Balletttänzerin war seit Jahren dement. Kinder hatte sie keine. Wer also hat für sie entschieden, dass sie vor der Kamera tanzt? Dass sie Teil einer Werbekampagne wird, auch wenn die PR einem guten Zweck dient? Das ist die erste Frage von vielen, die sich im Zusammenhang mit dem Video stellen, das Ende 2019 gedreht und jetzt unter anderem auf YouTube gepostet wurde: von der Stiftung "Música para Despertar". Die Organisation will damit demonstrieren, dass Musik ein mobilisierendes Therapeutikum ist, mithin segensreich auch in der Demenzbehandlung. Was selbst dem neurologischen Laien auf Anhieb einleuchtet.

Das Video zeigt die im Rollstuhl sitzende Marta Cinta und daneben einen Mann, der ihr über Kopfhörer Ausschnitte aus "Schwanensee" vorspielt. Der musikalische Trigger bewirkt eine Reaktion, die aus den tiefsten Tiefen des Körpergedächtnisses hervorbricht: Marta Cintas Arme fliegen empor und erzittern - so panisch und dabei formvollendet, wie es Peter Tschaikowskis Partitur der Schwanenkönigin gebietet. Nur schneidet die Videomontage im nächsten Moment nicht auf den "Schwanensee", sondern in eine ganz andere Choreografie: Auftritt "Der Sterbende Schwan", interpretiert nicht etwa von Marta Cinta, sondern von der russischen VIP-Ballerina Ulyana Lopatkina. Doch die Macher des Clips, allen voran der als Tonmeister agierende Psychologe Pepe Olmedo, verschweigen das - wie vieles andere auch. Sie glauben, auf Credits verzichten zu können, und laden die Aufnahmen stattdessen mit Informationen hoch, die sich als Sackgasse erweisen. Der erste, dem die Ungereimtheiten auffielen, war Alastair Macauly, der ehemalige Tanzkritiker der New York Times. Bestens vernetzt, bat er via Instagram und Co. die weltweite Tanzgemeinde um Hilfe: Wer war Marta Cinta?

Sicher ist, dass Marta Cinta das Meer geliebt hat

Das Ende ihrer Geschichte hat Macaulay allerdings nicht recherchiert. Wer die Spuren der Ex-Ballerina im Netz verfolgt und ein paar einschlägige Anfragen stellt, der ahnt, dass ihre letzten Lebensjahre viel besser dokumentiert sind als ihre berufliche Karriere: nicht zuletzt dank Fotos und Einträgen auf der Facebook-Seite der Seniorenresidenz in Muro de Alcoy nahe Valencia, die Marta Cinta seit 2014 beherbergt hat. Da taucht die "Bailarina" zum ersten Mal auf, schon zerbrechlich und an den Rollstuhl gefesselt. Eine elegante, etwas gestrenge Erscheinung, die sich hin und wieder ein Lächeln abringt.

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Die Heimdirektorin Inmaculada Vilar hat den Journalisten vor Ort ein paar Details berichtet. Demnach war die Künstlerin gebürtige Madrilenin, Witwe eines Chirurgen und zuletzt Leiterin einer eigenen Ballettschule in Madrid. Was Vilar weiß, hat sie entweder aus den spärlichen Unterlagen der alten Dame, von ihr selbst gehört oder von Dritten, denen die Verstorbene noch das eine oder andere anvertraut hat. Datum ihrer Geburt? Darüber gibt es keine klare Auskunft, nur eine offenbar gefälschte Angabe im Ausweis: 1949. Vilars Schätzung lautet: "um 1924".

Sicher ist, dass Marta Cinta das Meer geliebt und Strandbesuche genossen hat - stets angetan mit Strohhut auf dem schmalen Kopf und XL-Sonnenbrille auf der Nase. Jeder um sie herum wusste von ihrer Leidenschaft fürs Ballett und ihrer Vergangenheit als "professionelle Tänzerin". Woran, wie ein jüngerer Post erzählt, ihre "feinen Hände" ebenso erinnerten wie die eine oder andere Eitelkeit: akkurat gefeilte Nägel, spezielle Pflegecremes für Lippen und Teint. Auch meldeten sich ihre schwindenden Lebensgeister sofort zurück, wenn Tänzernachwuchs um die Ecke bog. Mit Ballettschülern aus Valencia posierte sie noch im Dezember 2019. Das Date wurde fotografisch festgehalten, allerdings mit einer Bildlegende versehen, die komplett in die Irre führt. Die dort auftauchende Behauptung, es handele sich um eine ehemalige "Primaballerina des New York City Ballet" und damit Weltklassetänzerin wird auch durch Wiederholung nicht richtig.

Genau da setzt Alastair Macauly an. Er hat die Handvoll Memorabilien und Fotografien, die aus dem schmalen Nachlass von Marta Cinta ins Netz gesickert sind, begutachtet und mithilfe zahlreicher Ballettfans analysiert. Daraus ergibt sich das Bild eines Mädchens, das mit seinen Eltern - der Vater war Ingenieur - nach Kuba ging und dort an einer Kaderschmiede des Tanzes ausgebildet wurde. Mit nicht einmal zwanzig Jahren, so berichtet das kubanische Kulturmagazin "Bohemia", hat Marta alias "Rosamunda" bereits zahlreiche Choreografien vorgelegt und große Erfolge in den USA gefeiert. Nichts davon lässt sich beweisen, schon gar nicht die Gründung einer eigenen Truppe in New York. Die Zertifikate, die Marta Cinta hinterlassen hat, sind häufig retuschiert: sie machen sie jünger. Aber zumindest ein Lehrdiplom hatte sie in der Tasche, bevor sie in Madrid zu unterrichten begann. Ihre "Escuela de Ballet Clásico" bot immerhin eine anspruchsvolle achtjährige Profiausbildung an. Handschriftlich signierte Kladden belegen zudem die Existenz eigener Choreografien.

Im März ist Marta Cinta gestorben. Offiziell nimmt niemand dazu Stellung, aber die Senioreneinrichtung in Muro de Alcoy wurde von der ersten Covid-19-Welle heftig erschüttert. Gut möglich, dass auch die ehemalige Tänzerin unter den Opfern war. Der Auftritt in Alzheimer-Mission hat der spanischen Bailarina Weltruhm beschert. Trotzdem oder gerade deswegen hat sie mehr verdient als Fake News. Und seien es hausgemachte.

© SZ vom 16.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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