Manuskriptfund:Bestes Frühwerk

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In St. Petersburg wurden vor Kurzem verschollene Strawinsky-Handschriften aufgefunden. Es handelt sich um die Orchesterstimmen zu einer Begräbnismusik des 26-Jährigen für seinen Lehrer Rimsky-Korsakov.

Von Helmut Mauró

Bis jetzt glaubte man, das Manuskript zu Igor Strawinskys frühem Orchesterstück "Grabgesang" sei 1917 in den russischen Revolutionswirren verloren gegangen oder vernichtet worden. Nun tauchten die originalen Orchesterstimmen wieder auf, und zwar in der Bibliothek des Konservatoriums von St. Petersburg. Igor Strawinsky, einer der bedeutendsten Komponisten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, war im Juni 1910 schlagartig berühmt geworden durch die Pariser Skandalaufführung seines "Feuervogel" durch Diaghilevs Ballets Russes. Den Begräbnisgesang (Pogrebal'naja Pesnja) schrieb er zwei Jahre zuvor im Gedenken an seinen Lehrer, den großen russischen Komponisten Nikolai Rimsky-Korsakov, kurz nach dessen Tod im Juni 1908.

Das etwa 12 Minuten dauernde Werk wurde nur ein einziges Mal aufgeführt

Das etwa zwölf Minuten dauernde Werk wurde nur ein einziges Mal aufgeführt, in einem von Felix Blumenfeld dirigierten Konservatoriumskonzert im Januar 1909. Strawinsky war damals 26 Jahre alt und völlig unbekannt. Er sprach später von seinem Grabgesang als einem seiner besten Frühwerke, sagte aber, er könne sich an die konkrete Musik nicht mehr erinnern. Russische Musikwissenschaftler vermuteten zwar immer, dass die Originalmanuskripte in der Masse unkatalogisierter Handschriften in St. Petersburg zu finden wären, konnten aber zur Zeit der Sowjetunion kein vorrangiges Interesse an Strawinsky und dessen Musik reklamieren. Die Lage der Musikhandschriften in den nie renovierten Gebäuden des Konservatoriums oder der Philharmoniker war extrem unübersichtlich. Letzten Herbst stieß eine Bibliotheksangestellte des Konservatoriums bei einer Kompletträumung und Bestandsaufnahme des Gebäudes auf die Handschriften und erinnerte sich, dass die Strawinsky-Forscherin Natalya Braginskaya speziell nach diesen Handschriften gesucht hatte.

Ohne die Wachsamkeit der Bibliotheksangestellten wäre der kostbare Fund wieder in der neu geordneten Bibliothek verschwunden. Stattdessen konnten die Noten am 4. September auf einer Konferenz der Internationalen Musikwissenschaftlichen Gesellschaft vorgestellt werden. Braginskaya beschrieb das Werk als ein langsames, prozessionales Stück mit kontrastierender Instrumentation, die durchaus an den Lehrer Rimsky-Korsakow erinnere, aber auch an Wagner. Der hatte Strawinsky offenbar stärker beeinflusst, als dieser später zugeben wollte.

© SZ vom 09.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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