Mankell: Der Feind im Schatten:Der geheime Mittelpunkt der Welt

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Henning Mankell schickt Kommissar Wallander in den wohlverdienten Ruhestand. Davor gibt es aber noch einen Fall zu lösen.

Thomas Steinfeld

Im Januar brannte "Buhres Fisk" bis auf die Grundmauern herunter, das große Fischgeschäft im Hafen von Kivik, einem Dorf an der Ostsee, fünfzig Kilometer östlich von Ystad. Zuerst vermuteten die Leute, der "Dämmerungspyromane" habe wieder sein Unwesen getrieben, ein notorischer Brandstifter, der angeblich zwar rund um die Uhr unter Aufsicht der Polizei steht, aber trotzdem immer entwischt - auf einem Damenfahrrad, mit einer Rolle Toilettenpapier und einer Kerze im Gepäck. Dutzende, wenn nicht Hunderte von Bränden soll er im schwedischen Süden gelegt haben. Doch nachzuweisen ist ihm offenbar nie etwas. Dann ergab es sich, dass der Brand im Fischladen durch ein Versehen entstanden war. Aber für ein paar Tage war er das größte Ereignis in der jüngeren Kriminalgeschichte in Südostschonen.

InDer Feind im Schattenlöst Kommissar Wallander seinen letzten Fall. (Foto: Foto: Zsolnay Verlag)

Der Held zieht aus

Am Ende des Romans Der Feind im Schatten (Zsolnay Verlag, München und Wien 2010. 592 Seiten, 26 Euro), dem zehnten und nun wohl tatsächlich letzten Band, den Henning Mankell den Abenteuern des Polizisten Kurt Wallander aus Ystad widmet, zieht der Held noch einmal hinaus: "Im April 2009 übernahm er die Ermittlung einer Serie von Brandstiftungen in der Umgebung von Ystad." Es dürfte sich dabei um die Taten des "Dämmerungspyromanen" handeln, ganz so, wie ein Ereignis aus den regionalen Polizeiberichten den Anlass für das Buch Mörder ohne Gesicht aus dem Jahr 1991, den ersten aller Wallander-Romane, geliefert hatte.

Damals waren drei maskierte Männer nachts in einen alleinliegenden Hof in der Nähe von Ystad eingedrungen, hatten alles Geld an sich genommen und die Bewohner, ein altes Ehepaar, an ihre Betten gefesselt zurückgelassen. In den knapp zwanzig Jahren zwischen diesen Ereignissen wurde Kurt Wallander zu einem der erfolgreichsten Ermittler der Kriminalliteratur überhaupt, zu einer Gestalt wie Kommissar Maigret oder Sam Spade. Dabei fehlt ihm, einem weichen, dicklichen, ja schon trüben Menschen scheinbar alles, was ein Detektiv braucht, um sich in einer bösen Welt durchzusetzen.

Provinz und Ereignislosigkeit

Es gibt nicht viele Tote im Feind im Schatten, gemessen an der Sterberate in anderen Romanen derselben Serie. Getötet wird fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit - und vor allem: wenig spektakulär. Kurt Wallander kehrt, so scheint es, in die Provinz und die Ereignislosigkeit zurück, aus der er gekommen war. Zwar hatte jede Geschichte in Ystad begonnen, und oft in alltäglichen Verrichtungen.

Doch hoch hinauf hatte es den Kommissar jedesmal getrieben, in die Machenschaften der internationalen Finanzwirtschaft, in die Weltpolitik, in die globalen Datennetze, in Rauschgift- und Menschenhandel. Die Opfer verbluteten in Bambusspießen, traten in Gärten auf Minen oder wurden bei lebendigem Leib skalpiert. Jetzt senkt sich die Abendsonne über die Getreide- und Kartoffelfelder bei Löderup, wo sich Kurt Wallander zum Lebensabend einen alten Hof mit Meerblick gekauft hat, und manchmal weiß er nicht einmal mehr, wer er ist.

Fährnisse des Alltags

Von der Überforderung einer Landschaft durch eingebildete Verbrechen möchte man da reden, vom Überschnappen der kriminellen Phantasie in einer Gegend, in der schon die Eröffnung eines Blumenladens, von dem übrigens alle Einheimischen wissen, dass er dem schnellen Untergang geweiht ist, für Schlagzeilen in der Lokalpresse sorgt. In dieser Überforderung aber liegt der erste Grund für den gewaltigen Erfolg Kurt Wallanders auf dem europäischen Buchmarkt: Über Jahrzehnte hinweg war der Kriminalroman ein einfaches, aber praktisches Transportgerät der Literatur gewesen, ein Vehikel, dem man unendlich große Lasten aufbürden konnte, poetische, sozialkritische, obsessive aller Art - der Kriminalroman trug sie alle, und sie alle waren durch ihn an das gewöhnliche Dasein, an die Fährnisse des Alltags gebunden.

Kurt Wallander aber legte noch eine Last hinzu: die Unwahrscheinlichkeit des Plots. Doch anstatt dass die Verknüpfung der Detektivgeschichte mit dem phantastischen Thriller die Achsen des Vehikels einknicken ließ, nahm es noch einmal rasende Geschwindigkeit auf: in der Beschwörung globaler Konspirationen, die einen jeden, und sei es einen Rübenbauer in seinen Gummistiefeln, zu jeder Zeit zum geheimen Mittelpunkt der Welt machen können.

Lesen Sie weiter auf Seite zwei, warum Kurt Wallander so erfolgreich ist.

In dieser Hinwendung zur Provinz, zu einer in allen Details definierten Region liegt der zweite Grund für den Erfolg Kurt Wallanders. Er brachte die Heimatliteratur auf den jüngsten Stand der Globalisierung. Denn je mehr diese voranschreitet, desto heftiger wird das Verlangen nach scharf umrissenen Grenzen, nach genauer Bekanntschaft mit dem Geruch eines in der Maschine bitter gewordenen Kaffees in einer gesprungenen Porzellantasse auf einer geblümten Wachstuchdecke auf einem kleinen Hof unter einer halbtoten Ulme in der Agrarwüste Südschwedens, nach präziser Ortskenntnis und Beherrschung des Dialekts.

Das Hier ist auch ein Irgendwo

Und so verwandt ist Kurt Wallanders Region allen anderen Regionen West- und Mitteleuropas, so vertraut sind schwedische Bürokratie, schwedische Verkehrstechnik und schwedischer Staatsidealismus, dass dieses Schonen mühelos an die Stelle anderer Regionen rücken kann, auch wenn dort nicht der kalte Ostwind aus Lettland bläst. Denn es kommt zwar darauf an, dass diese Geschichten genau hier spielen. Aber das Hier ist auch ein Irgendwo.

Die andere Seite der Heimat ist die Verschwörung. Der reiche Geschäftsmann, der sein Geld auf unlautere Weise verdient und deswegen seinen Anwalt töten lässt, die scheinbar anständigen Bürger, die junge Frauen bis auf den Tod quälen, die dunklen Organisationen, die das universelle Streben nach Demokratie und Gerechtigkeit zu hintertreiben suchen, im Baltikum, in Südafrika, an jedem Punkt der Erde - all diese finsteren Gestalten sind Produkte der Überzeugung, es gebe eine zweite Welt hinter der bekannten, eine, die von ebenso mächtigen wie in einzelnen Menschen zu fassenden Zusammenschlüssen kontrolliert wird.

Der Glaube an den Kader, der in kommunistischen Kleinorganisationen der siebziger Jahre den Kampf gegen eine Weltverschwörung von Kapital und Politik beseelte, lebt als gesunkenes Kulturgut im Kriminalroman fort: "Immer noch galten die USA vielen Schweden als Heilsbringer. Ein Europa ohne die USA wäre nahezu wehrlos. Vielleicht würde niemand von der Wahrheit, in deren Besitz Wallander sich wähnte, etwas wissen wollen." In diesem Detektiv verbirgt sich ein Flugblattschreiber - nur, dass seine Klageschriften die Gestalt von Heimatromanen annehmen. Der Pamphletismus ist der dritte Grund für die Beliebtheit Kurt Wallanders.

Das letzte Abenteuer

In Der Feind im Schatten zieht der Polizist die Summe seiner Existenz - er trägt die Frauen zusammen und die Fälle, die überstandenen Gefahren und die verlorenen Gefährten. Sein letztes Abenteuer gilt Schweden - genauer: dem Glauben an die Neutralität dieses Landes. Zu diesem Zweck rollt Henning Mankell eine alte Geschichte auf, aus den frühen achtziger Jahren, als das Militär in den Schären nach fremden U-Booten suchte und plötzlich ein solches, die russische U-137, vor der schwedischen Marinebasis in Karlskrona auf einem Felsen lag. Noch einmal klärt Kurt Wallander einen Fall, und noch einmal stirbt ein Schuldiger - ein Verräter von Volk und Vaterland, auch wenn Volk und Vaterland ihn womöglich nicht als Verräter wahrgenommen hätten.

Zurück bleibt der zunehmend vergessliche Detektiv auf seinem einsamen Hof in der Provinz - und indem sein Autor ihn preisgibt, leuchten all seine Motive noch einmal auf: "Das wichtigste in diesem Buch ruht auf dem soliden Fundament, das die Wirklichkeit ausmacht", erklärt er am Ende - was bedeutet: Henning Mankell will mit seinen Romanen auch über die Literatur hinaus recht behalten. Für ein literarisches Motiv kann man diesen Gedanken nicht halten. Denn anders, als der Kriminalroman glauben machen will, dienen seine Geschichten nicht der Beunruhigung. Er will die Idylle, nicht im Stoff, sondern im Kopf des Lesers.

© SZ vom 27.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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