Malte Herwigs Biografie "Der große Kalanag":Der rastlose Trickser

Lesezeit: 5 min

Nach dem Krieg redete er seine Nazi-Rolle klein und wurde weltberühmt: Während eines Auftritts in den Fünfzigerjahren zersägt Kalanag eine Frau. (Foto: Imago/Imago/Zuma/Keystone)

Der Autor Malte Herwig hat eine packende Biografie über Helmut Schreiber alias Kalanag geschrieben, den Hofzauberer Hitlers und Nachkriegsweltstar der Magie.

Von Burkhard Müller

Hitler hat einen besonderen Gast. Der darf ihn bei einem gemeinsamen Spaziergang sogar fragen, wie viel Geld er in der Jackentasche dabeihat. "Wissen Sie nicht, dass ich nie Geld bei mir trage?", antwortet Hitler überrascht. "Natürlich, mein Führer. Aber würden Sie dennoch die Freundlichkeit haben, in Ihrer linken Jackentasche nachzusehen?" Irritiert greift Hitler in seine Jacke und zieht eine Brieftasche mit 150 Reichsmark hervor. Dieser Zauberkünstler hatte es tatsächlich geschafft, die Brieftasche dort hineinzuschmuggeln, ohne dass er es bemerkt hatte.

Der Zauberkünstler ist Helmut Schreiber, der sich später Kalanag nannte, die schwarze Schlange, nach einer Figur in Kiplings "Dschungelbuch". Nicht nur einmal tritt er Hitler derart zauberisch nahe; manchmal bleibt er eine Woche und mehr auf dem Obersalzberg und schickt von dort fröhliche Ansichtskarten an die neidischen Kollegen. "Nie war jemand", schreibt sein Biograf, "dem Führer näher gekommen als Helmut Schreiber in diesem Augenblick - außer vielleicht Eva Braun, aber auch das ist keineswegs sicher."

Der Satz ist typisch für Art und Ton des Buchs von Malte Herwig, der schon mehrere Bestseller verfasst und journalistisch für die Süddeutsche Zeitung, den Spiegel und den Stern gearbeitet hat. Es ist flott und etwas süffisant geschrieben. Und was bei anderen Aspekten jener Epoche womöglich zum Ärgernis geworden wäre - hier passt es.

Das Zauberwort "Simsalabim!" war seine Erfindung

Nicht als ob deswegen alles heiter wäre. Helmut Schreiber ist kein Felix Krull, sondern unübersehbar ein Getriebener, der seine Lebenskerze an beiden Enden abbrennt. 1903 geboren (oder doch schon 1893? - er schreibt den Nuller so, dass man ihn auch als Neuner lesen kann, und sorgt damit absichtlich für Verwirrung), gibt er schon mit 15 Jahren erstaunliche Proben seines Talents und ist mit 25 ein Star im Berlin der Weimarer Republik. Mit 40, als Hitlers Gast, sieht er aus wie 50. Mit 60 stirbt er, adipös und gesundheitlich völlig zerrüttet, an einem Herzleiden.

Nicht nur Zauberer ist er, sondern Zauberpolitiker, wenn man das so nennen kann. Als Präsident des "Magischen Zirkels" setzt er das "Führerprinzip" auch in seiner Branche mit Nachdruck um. Abweichler bekommen auf seine Anregung hin Besuch von der Gestapo. Er kennt seine Klientel genau, wird von Göring zu einer pompösen Zauberfeier nach Carinhall eingeladen (eine großartige Szene im Buch), weiß aber, dass er bei dem nervösen Goebbels, der nicht gern hinters Licht geführt wird, aufpassen muss, und wendet sich mit seinen Tricks lieber an dessen Gattin Magda. Daneben betätigt sich der Rastlose auch noch als Filmproduzent und bringt 180 Filme unters Volk, darunter ein antisemitisches Musical mit dem Titel "Robert und Bertram" (gewiss das einzige seiner Gattung), das bei Hitler dennoch keine Gnade findet, weil die schlauen Juden darin zwar gut getroffen seien, die Deutschen aber allzu doof dastehen.

Manchmal blieb er eine Woche und mehr auf dem Obersalzberg: Kalanag lässt in einer Show in den Fünfzigern seine Frau Anneliese alias Gloria de Vos schweben. (Foto: Imago/United Archives International/Imago/United Archives Internatio)

Herwig erliegt nicht der Versuchung, seinen Gegenstand zum Helden zu machen. Er erkennt in dem liebenswürdigen Unterhaltungskünstler den berechnenden Opportunisten. Er ist offenkundig fasziniert davon, wie Schreiber nach 1945 seine Rolle als Gefährte der Nazi-Größen zu der eines unbedarften Hofnarren kleinzureden verstand und das Image eines Onkels kultivierte, der nie ein Wässerlein getrübt hat. Wenn man Bilder von ihm aus den Fünfzigern sieht, wirkt er wie ein Bruder von Heinz Erhardt.

Damals begann erst die ganz große Karriere: Schreiber, nunmehr endgültig zu Kalanag geworden, reist viele Jahre mit seinen langbeinigen "Mystery Girls" durch die ganze Welt, 70 Mann Personal, drei Güterwaggons mit magischen Utensilien, immer vor riesigen ausverkauften Häusern. Er feiert Triumphe selbst im feindseligen England. In Stuttgart, seiner alten Heimat, sehen ihn in einer einzigen Saison 48 000 Menschen.

Er zersägt Jungfrauen und lässt Autos verschwinden, fährt blind und mit einem Sack über dem Kopf, aber mit Genehmigung der Polizei durch die von ihm besuchten Städte und erscheint mit einem Geparden an der Leine an der Hotelrezeption. Ihm zur Seite steht seine Ehefrau Anneliese, aufgepeppt zur blonden Gloria de Vos, voll sprühenden Charmes, aber innerlich von Eifersucht zerfressen. Eins der vielen Girls, die sie speziell im Verdacht hat, lässt sie bei einer Schwebenummer aus drei Metern Höhe auf den Boden krachen.

Malte Herwig: Der Große Kalanag. Wie Hitlers Zauberer die Vergangenheit verschwinden ließ und die Welt eroberte. Penguin Verlag, 2021. 481 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Überhaupt hat Herwig auch die Nebenfiguren gut in Szene gesetzt. Neben Gloria gibt es den Schwabinger Kabarett-Patriarchen Papa Benz, den eitlen Sexual- und Okkultismusforscher Moll und Kalanags eigentlichen Gegenspieler Marvelli, im Kontrast zu dem flinken Pykniker ein krähenhafter, elegant schlaffer Virtuose, den Schreiber aus dem Zauberzirkel wirft und der sich nach dem Krieg zu rächen versucht. Emotional am stärksten sind jene Passagen, wo der Autor die hochbetagten Überlebenden aufgesucht hat, etwa Schreibers lang verschollene Tochter Brigitte, deren unvermutetes Erscheinen der Zauberer als Bühnen-Rührstück improvisiert und die ihm doch im Nachhinein eine fahrige Kälte bescheinigt.

Die zitierten Charakterzeugnisse, nicht zuletzt die Denunziationen und Persilscheine nach 1945, schwanken wild in ihrer Bewertung. Die ihn am besten kannten, scheinen ihn menschlich allerdings als Enttäuschung erlebt zu haben. Er zeugte später noch eine Tochter namens Brigitte - wie kommt jemand auf die Idee, zweien seiner Kinder denselben Namen zu geben? Doch die Zwillingsnummer gehört bei Kalanag zum Handwerk. Er tourt auch mit Heike und Heidi durch die Lande, von denen sich immer nur eine auf einmal öffentlich zeigen darf, denn sähen die Leute auch die andere, so wäre eins der besten Zauberstücke, das auf ihrer geheimen Duplizität beruht, im Eimer.

Gegen Ende der Fünfziger beginnt Kalanags Stern zu sinken. Den Garaus macht ihm das Fernsehen, in dem er erlahmend noch ein paar Sendungen mit Kartentricks und Ähnlichem bestreitet. Die Autos, die er verschwinden lässt, werden immer kleiner, zum Schluss ist es nur noch eine Vespa.

Inwieweit zwischen Hitler und dem Zauberer in dem manischen Drang, Fabeldinge wie Wunderwaffen und schwebende Jungfrauen zu realisieren, eine Seelenverwandtschaft bestanden haben könnte (Herwig deutet es an), muss wohl offenbleiben. Eher dürfte der Magier die kindlich-künstlerische, die sozusagen harmlose Seite des Führers berührt haben. Aber indem er seinen Kalanag als Symbolgestalt einer Nachkriegsgesellschaft deutet, die sich ans Jüngstvergangene nicht erinnern mag und sich dafür umso gläubiger den Wundern des Aufschwungs zuwendet, hat Herwig einen überzeugenden Griff getan.

Ein Literaturverzeichnis findet er zu Recht entbehrlich und die Autobiografie Kalanags mit dem bezeichnenden Titel "Simsalabim wirbelt um die Welt" behandelt er als das, was sie ist, nicht als Quelle, sondern als den großen abschließenden Trick dieses schillernden Lebens. Der Name Kalanag ist heute weitgehend vergessen. Aber "Simsalabim", das er, inspiriert durch ein Kinderlied vom erschossenen und doch wieder neu geborenen Kuckuck, zu seinem magischen Wort erkor: das hat sich bis heute als Inbegriff der Zauberei erhalten, ein anonym gewordenes Vermächtnis. Doch als ein Jahr vergangen war - Simsalabim! -, da war der Kuckuck wieder da. Es ist Kalanags eigenes Schicksal.

Ganz zum Schluss schreibt Herwig: "Denn dieses Buch ist kein Roman, sondern eine wahre Geschichte. Für einen Roman wäre Kalanags Leben zu unglaubwürdig." So nennt er ganz nebenbei auch den Grund, warum ein gutes Buch, das von dem spricht, was wirklich geschehen ist, auch dem besten historischen Roman immer überlegen bleibt.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Die Briefe von Albert Camus und Maria Casarès
:"Ich will Dich"

Ein Liebesmarathon, eine Turbulenz, die 15 Jahre anhielt: Der Briefwechsel von Albert Camus und seiner Geliebten Maria Casarès ist jetzt auch auf Deutsch zu lesen.

Von Joseph Hanimann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: