Magische Kulturmomente:Konkret ist alle Poesie

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SZ-Autoren erzählen von Erlebnissen vor, auf und hinter der Bühne, in Ausstellungen und bei Vorlesungen, die sie 2019 verzaubert haben

Ein Hauch nur

Die Magie steckt bekanntlich im Detail. Und weil das so ist, braucht es im Grunde nicht viel, um andere Menschen zu verzaubern. Die amerikanische Singer-Songwriterin Joan Wasser alias Joan As Police Woman benötigte dafür bei ihrem Solo-Konzert im Münchner Heppel & Ettlich nur ein Klavier, eine Gitarre, eine Beat-Machine, Humor und ihre eindringliche Stimme. So reduziert und musikalisch entschlackt wirkten ihre sehr persönlichen, intimen Songs wie etwa "Warning Bell" und "Christobel" noch eine ganze Spur intimer. Auch ihre wunderbare Cover-Version des Pop-Klassikers "Kiss" von Prince bestand aus kaum mehr als ein paar gezupften Akkorden und einem Hauchen. Und aus subtil gesetzten Freiräumen, in denen sich die Magie entfalten kann. Jürgen Moises

Schreiben entdecken

Der Anblick ist selten geworden: ein Mensch, der nicht tippt, klickt oder wischt, sondern mit der Hand schreibt. Was noch viel seltener geworden ist: Dutzende, ja, Hunderte Menschen, die nicht tippen, klicken oder wischen, sondern mit den Händen schreiben. Doris Dörrie ist genau das gelungen in diesem Jahr: Sie hat die Menschen zum Schreiben gebracht. Und nicht nur das. Sie hat Zuhörer in Mitmacher verwandelt, Passive in Aktive, ihnen dabei eine Reise in ihre eigene Vergangenheit geschenkt, eine Reise zu sich selbst. Es geschah im September im ausverkauften Literaturhaus, wo Dörrie ihr neues, ziemlich gutes Buch "Leben, schreiben, atmen" vorstellte, und weil es zu ihrem Konzept gehört, nicht nur zu erzählen, zu lesen und zu dozieren, sondern Impulse zu setzen, lud die Autorin zu einer Übung ein. Jeder sollte sich zurückversetzen in die Kindheit, sollte an den Boden unter seinen Kinderfüßen denken, und dann: einfach drauflosschreiben. Stifte und Papier lagen bereit. Einige zögerten. Die meisten nicht. Schließlich schrieben fast alle, ließen sich mitreißen von der eigenen Biografie. Minutenlange Stille im großen Saal. Hunderte im Flow. Ein Hoch auf die Handschrift. Und auf die Geschichten. Bernhard Blöchl

Das leere Archiv

Das Kunsthaus Rehau sind wir von unten bis oben abgelaufen. Der 94-jährige Eugen Gomringer, immer zwei Schritte voran, erzählt ganz konkret die Geschichte der konkreten Poesie. Jetzt noch in die "Poema", einen Raum im Nebenhaus, in den das Archiv des Dichters hätte einziehen sollen. Doch weil das nun in die Schweiz geht, hängen dort seine 14 wichtigsten Gedichte, im Großformat auf Holzplatten. "avenidas" natürlich, "kein fehler im system" oder "schweigen", das Gedicht mit der berühmtesten Lücke der modernen Lyrik. Und nur ein Schild am Schreibtisch erinnert an den historischen Augenblick, als Gomringer und Decio Pignatari 1955 in der Mensa der HFG Ulm beschlossen, die neue Poesie gemeinsam als konkrete Poesie zu bezeichnen. Sabine Reithmaier

Singen macht glücklich

Das ist doch keine Kunst, sich einfach hinzustellen und loszusingen? Zugegeben: Wirklich große Kunst kommt nicht dabei heraus, wenn sich ein paar hundert Menschen auf den Odeonsplatz stellen und "People are people" von Depeche Mode schmettern. Eine nicht zu unterschätzende Kunst ist es allerdings, sie über zwei Stunden hinweg überhaupt dazu zu bringen, ein mehrstimmiges Arrangement einzustudieren - Jens Junker und Ian Chapman vom Go Sing Choir gelingt das mit lässigem Charme. Sänger in festen Chören werden zwar verächtlich schnaufen, doch nach einem Probe-Singen beim Anderart-Festival lässt sich entgegnen: Es macht einfach Spaß! Gerade wenn, wie bei Anderart Ende September, ausgerechnet vor der historisch belasteten Feldherrnhalle Hunderte von Münchnern und (Wiesn)-Besuchern singen: "I can't understand / What makes a man /Hate another man / Help me understand". Wenn danach noch die Band Capones aufdreht und Menschen jeden Alters aus aller Welt gemeinsam wippen oder gar tanzen. Und womöglich alle das irritierend schöne Gefühl haben, sich hier mal kurz und ganz und gar am richtigen Platz zu fühlen. Antje Weber

Singen macht glücklich, Teil 2

Es gibt viele Möglichkeiten, sich einer anderen Kultur zu nähren. Über das Essen zum Beispiel oder über das Bestaunen von uraltem Gemäuer. Im Falle von Israel ist das Ganze natürlich besonders spannend und auch besonders kompliziert. Vor allem, wenn man mit mehr als 40 zum Großteil bärtigen Oberammergauern unterwegs ist, weil die sich dort auf die Passionsspiele vorbereiten. Nach vier Tagen Hitze, Ausgrabungsstätten, Diskussionen und Schwimmen im badewannenwarmen See Genezareth macht sich die Gruppe auf zu einer unerhört frühen Fahrt nach Jericho. Der jüdische Reiseleiter Jonathan ist bester Laune und stimmt übers Mikrofon ein Lied an: "Hevenu shalom alechem" singt er. Erst allein, doch nach und nach erwacht der Bus, die Stimmen werden mehr, bis alle gemeinsam singen. Draußen rauscht die Wüste vorbei. Christiane Lutz

Der Kuss

Von Haus aus ist der Journalist ein Beobachter. Trotzdem fühlt er sich nicht immer richtig am Platz dabei. Die folgende Szene ereignet sich nach einem Konzert im Gasteig, Backstage. Gerade noch stand Barbara Hannigan auf der Bühne. Die Kanadierin dirigierte nicht nur die Philharmoniker. Sie hat auch selbst gesungen - ein tonal einigermaßen nervenaufreibendes Opus für Sopran, Geige und Zymbal: "Zur Erinnerung an einen Winterabend" von György Kurtág. Erschöpft und aufgedreht zugleich wirkt sie jetzt, wie eine Elfe nach flirrend verbrachter Zaubertat. Ihre zarte Gestalt umweht ein tiefschwarzer Anzug mit exzentrisch weitem Hosenschlag, das schöne, lange, blonde Haar ist leicht verschwitzt. Es gilt, nur kurz einen Interviewtermin zu besprechen für den nächsten März. Da kommt er herbeigeeilt. Ein Fabelwesen wie sie, ihr Geliebter. Er ist der Star aus Julian Schnabels wunderbar traurigem Film "Schmetterling und Taucherglocke", der funkeläugige Bösewicht aus dem Bond-Film "Ein Quantum Trost", Frankreichs gefeierter Schauspieler, Regisseur, Autor Mathieu Amalric. Er sieht nur sie. Er fasst ihren Nacken, und küsst ihr die süßen Worte des Lobes mitten auf den Mund. Jetzt besser schnell wegsehen. Susanne Hermanski

Berührende Worte

Natürlich weiß man, dass Laudationes zum Zwecke des Lobpreises verfasst werden und entsprechend immer voller guter Worte für die zu Ehrenden sind. Daher erwarten die Gäste einer Preisverleihung von einem Laudator oder einer Laudatorin auch nichts anderes, als dass salbungsvolle Sätze auf den Preisträger oder die Preisträgerin niederregnen. Doch die Kunst der Rede zeigt sich darin, wie treffend die Worte sind und wie glaubwürdig die Laudatio bei den Zuhörern ankommt. Die Worte, die die Kuratorin Patrizia Dander in ihrer Laudatio auf die Kunstpreisträgerin der Stadt München Barbara Gross fand, waren derart fundiert und angemessen und dabei so persönlich und deshalb so glaubwürdig, dass man an einigen Stellen fast schlucken musste. Nicht klischeehafter Lobpreis, sondern echte Bewunderung der Jüngeren für die Ältere sprach aus diesen Ausführungen, mit denen Dander deutlich machte, welche Bedeutung der mehr als 30 Jahre währende, kontinuierliche Einsatz der Galeristin für das Werk von Künstlerinnen hat. Solchen kenntnisreichen und mit Schwung und Empathie vorgetragenen Laudationes hört man gerne öfter zu. Evelyn Vogel

Seliger Schlupfwinkel

Nach der Premiere hockt Paula Hans auf einer Art Felsbrocken im Foyer des Residenztheaters. Ihre Wangen sind erhitzt, der Blick glänzend, in ihrem ganzen Körper scheint die Anspannung der Bühne weiterhin zu pulsieren. Sie ist noch diese hibbelige Ronja, die sie mit unglaublicher Agilität eineinhalb Stunden lang verkörpert hat. Jetzt umringen sie Kinder auf ihrem Felsen, halten ihr Programmhefte hin, damit sie ihren Namen darauf schreibt. "Wie wird man so eine gute Schauspielerin?", fragt da jemand. Paula Hans blickt auf, strahlt und sagt: "Schauspielschule, üben, üben, üben - und im Herzen ein Kind bleiben." Und da weiß man, dass der große Theaterregisseur Max Reinhardt recht hatte, als er den magischen Satz über das Theater schrieb, es sei "der seligste Schlupfwinkel für diejenigen, die ihre Kindheit heimlich in die Tasche gesteckt und sich damit auf und davon gemacht haben, um bis an ihr Lebensende weiter zu spielen". Yvonne Poppek

Tee mit Gilbert & George

Manchmal kann man nicht schreiben, was einen wirklich beschäftigt an einer Begegnung. Etwa als die beiden Londoner Künstler Gilbert & George nach München kommen, um in der Reihe "Kino der Kunst" Filme über ihre Arbeit vorzustellen und zu erzählen, was sie schon seit Jahrzehnten über sich erzählen (Gilbert & George, die miteinander verheiratet sind, verstehen sich als lebendes Doppelgesamtkunstwerk und behalten nun einmal gern die Deutungshoheit über sich selbst). Zum Interview sitzen wir schön im Warmen, in einem Separee im Bayerischen Hof, draußen vor der Tür aber herrscht Münchner Schneechaos. Beide Männer wirken derart britisch und ausschließlich im Regen Londons sozialisiert, wie man es nur sein kann - in maßangefertigten Tweedanzügen, in ihrer ausgewiesenen Höflichkeit, mit ihrem Five-o'clock-tea-Ritual, ihren doch irgendwie versauten Anspielungen hie und da und in ihrem Bekenntnis, entschiedene Brexiteers zu sein (sie hassen "Gleichmacherei für die die Bürokratie der EU steht", sagen sie). Als die Interviewerin Gilbert trotzdem fragt, wie das denn damals war mit dem Schnee in der Welt seiner Kindheit, die sich eben nicht in diesem poppig-wilden neonlichternden London abspielte, sondern in einem tiefen, womöglich recht finsteren ladinischen Tal in Südtirol - da wird es still im Raum. Und über den Teetisch weht als Antwort nur: ein eisiger Hauch. Susanne Hermanski

Ganz ohne Hollywoodkitsch

Blockbustermusik, so überladen wie ein Sakralbau, und eine Inszenierung, die als Kostümfest in die prunkvoll-elendige Zeit der Französischen Revolution entführt: Umberto Giordanos "Andrea Chénier" an der Bayerischen Staatsoper lässt nichts unversucht, um sein Publikum zu überwältigen. Doch genau der Moment, der am wenigsten nach Aufmerksamkeit heischt, bewegt am meisten. Anja Harteros steht als Maddalena im kleinen, schmuddeligen Zimmer und singt in ihrer Arie "La Mamma Morta" davon, wie ihre Mutter ihr das Leben rettete, indem sie ihr eigenes opferte. Das singt sie eindringlich, klar und ohne jede Spur von Glamour. Dort zählt nicht mehr Pomp und Hollywoodkitsch, dieser Moment gilt nur der Musik und der Emotion. Und alles andere ist plötzlich völlig egal. David Renke

Taufrische Blasmusik

Schnee hat sogar in diesen kaum mehr Winter zu nennenden Tagen etwas Magisches, mitten im Sommer auf einem Acker in Eching aber kam er einem Wunder gleich. Für nichts anderes hatten ihn ein paar Burschen ein halbes Jahr lang in einem Erdloch aufbewahrt, ihn mit dem Trecker herangekarrt und zu einem stolzen Haufen aufgeschüttet: Damit die Welt an diesen drei Augusttagen darüber staune, zumindest die Zeltplatz-Gäste des "Brass Wiesn"-Festivals. Blasmusik ist da Lifestyle. Es staunten auch Michael und Stofferl von der Wellbrüdern aus dem Biermoos, obwohl die in ihrer 50-jährigen Karriere einiges gesehen haben. Nach ihrem ersten, umjubelten Auftritt auf diesem Woodstock der Blasmusik saßen sie hinter der Bühne, blickten sinnierend über den Acker mit Dauerrummel auf dem Camping-Areal. "Als wir anfingen, hatte Volksmusik etwas Muffiges", sagte der Heimatsound-Pionier Stofferl Well zufrieden, "heute ist es Party". Michael Zirnstein

Ähnlichkeit rein zufällig

Er hat sich schon seit zehn Tagen nicht mehr rasiert und nicht gewaschen. Und er hat nichts als eine Flasche Rum in seinen Manteltaschen: Das behauptet jedenfalls Nicholas Ofczarek in der wohl tollsten Szene der an tollen Szenen reichen Thriller-Serie "Der Pass". Darin torkelt der Star des Wiener Burgtheaters als versoffener Cop frühmorgens durch ein Kaffeehaus und grölt das alte Wolfgang-Ambros-Lied von der "Kinettn": "I hob mi scho seit zehn Tog nimmer rasiert und nimmer gwoschn ...". Bei der Münchner Premiere im Januar torkelt er zum Glück nicht, im Gegenteil: Auf dem roten Teppich vor dem Gloria Palast zeigt Ofczarek sich von seiner elegantesten Seite, frisch rasiert, mit gescheiteltem Haar und im schwarzen Anzug. Das zeigt Wirkung, die Premierengäste sind hingerissen und erleichtert zugleich. Und auf die naheliegende Frage, was ihn denn mit der Figur im Film verbinde, antwortet der Schauspieler lässig: "Naja, wir schauen uns halt recht ähnlich". Josef Grübl

Zum Fressen gern

Frisch gebacken ist er, der Lebkuchenmann. Und frischen Mutes. So macht er sich auf der Unterbühne im Münchner Theater für Kinder daran, mit Hilfe von Fräulein Pfeffer und Käpt'n Salz die Oberbühne zu erklimmen. Dort will er Honig für den heiseren Kuckuck ergattern, denn der kriegt in seiner Uhr kaum noch einen Ton heraus. Dort oben droht aber auch Gefahr in Gestalt eines Mäuserichs, der den Lebkuchenmann zum Fressen gern hat. Also wendet sich der wackere Titelheld des Stücks "Der Lebkuchenmann" an die jungen Zuschauer im voll besetzten Saal. Ob sie ihm bitte mit Süßigkeiten aushelfen können? Die wolle er als Spur für den Mäuserich auslegen, um ihn von sich abzulenken und Zeit zu gewinnen. Mit diesem Erfolg hat der Schauspieler Clemens König wohl nicht gerechnet: Sofort wühlen die Kinder in ihren Taschen, fördern Kekse, Bonbons und Kaugummis zu Tage. Bestimmt 30 Fans stehen dann Schlange, um ihm ihre Schätze zu überreichen. Mit denen sich ganze Mäuse-Horden bannen ließen. Barbara Hordych

Atemberaubend

Der Laden war rappelvoll. Es hatte sich herumgesprochen, dass die letzte musikalische Weggefährtin (und Freundin) von Prince ein Gastspiel in der Unterfahrt gab. Wie Miles Davis hatte der ein extremes Gespür für Talent. Fast alle, die bei Miles spielten, wurden später selbst groß; Prince förderte vor allem Frauen, von Candy Dulfer und Sheila E. über Wendy & Lisa bis zu Ida Nielsen. Alle toll, aber kein derartiges Gesamtkunstwerk wie Judith Hill, die nun auf die für ihre Verhältnisse winzige Unterfahrt-Bühne trat. Eine umwerfende Sängerin ist sie, eine begabte Songwriterin. Sie beherrscht wie ihr Mentor diverse Instrumente. Nun drückte sie mit ihrer exzellenten Band die ganze Packung afroamerikanischer Musik von R'n'B, Soul und Funk über Jazz bis Rap mit einer solchen Wucht in den Saal, dass es einem den Atem verschlug. Es mag stimmungsvollere Jazzclubs geben als die Unterfahrt, aber an diesem Abend hätte man nirgendwo anders sein wollen. Oliver Hochkeppel

© SZ vom 31.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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