Klassik:Neues aus der Afro-Diaspora

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Hannah Kendalls Ensemblestück "Verdala" überzeugte in Berlin durch Knappheit, Vitalität und Ökonomie. (Foto: Chris Alexander)

Das Berliner Maerzmusik-Festival präsentiert sich digital - mit "Afro-Modernism in Contemporary Music".

Von Wolfgang Schreiber

Das Berliner Festival Maerzmusik, diese Spielwiese kunstmusikalischer Experimente der Berliner Festspiele, war im Vorjahr der Seuche zum Opfer gefallen und feiert dieses Jahr seine Wiederkehr als reine Online-Ausgabe - Musik und Debatten vollelektrifiziert, raumlos, global. Seit sechs Folgen nennt man sich leicht kopfgesteuert ein "Festival für Zeitfragen". Denn der ambitionierte Leiter Berno Odo Polzer versteht sein Festival als intellektuellen Ort "gemeinsamen Hörens und Nachdenkens". Dafür installierte er die tägliche Diskursübung "Thinking Together", diesmal mit dem Thema "Ende der Zeit". Das meint aber kein Ende der Musik, die dann in einem ganz speziellen Konzert triumphieren durfte.

"Afro-Modernism in Contemporary Music" hieß das Motto beim Konzert des geradezu schon legendären Frankfurter Ensemble Modern, seit Jahrzehnten Deutschlands führender Spezialistentruppe avantgardistischer Klassik. Angekündigt war ein "Panorama afro-diasporischer Musik", kombiniert mit dem Bedauern über "das lange Schweigen, das Komponist*innen der afrikanischen Diaspora innerhalb der musikalischen Avantgarde umhüllt".

Zum Kurator dieses Konzertprojekts machte man den US-amerikanischen Komponisten und Posaunisten George Lewis, der als Fellow des Wissenschaftskollegs gerade in Berlin lebt. Von ihm, dem 1952 in Chicago geborenen Musiker und Professor an der Columbia University in New York, stammt der "afromodernistische" Antrieb. Er verstehe darunter nicht eine spezifisch afrikanisch oder afroamerikanisch klingende Musik, sondern die klassische Gegenwartsmusik aus der sogenannten "Afro-Diaspora". Das sei, sagte er im Gespräch bei Radio Berlin-Brandenburg, eine in den kreativen Methoden, Stilen und Klängen sehr vielfältige, hierzulande ausgesparte Welt - Ausdruck einer Lebensweise. In Europa fehle "das Bewusstsein darüber, was in der Diaspora der zeitgenössischen Musik passiert. Man muss sie hören."

Die Composers of Color, die George Lewis für das Konzert des Ensemble Moderne vorgeschlagen hatte, dirigiert von dem in Simbabwe geborenen Vimbayi Kaziboni, kommen aus der ganzen Welt, Komponisten aus den USA und Großbritannien, aus Südafrika, der Schweiz und Kuba, im Alter zwischen 25 und 81 Jahren.

Alle Akteure sind etabliert in den Nischen einer zerfransten internationalen Avantgarde

Da gibt es die 1984 in London geborene Hannah Kendall, deren Eltern aus Guyana stammen. Mit dem knappen Ensemblestück "Verdala" zeigt sie ihre quicklebendig abgestufte Klangökonomie. Der im schweizerischen Biel geborene, in New York erfolgreiche junge Komponist und Perkussionist Jessie Cox komponierte "Existence lies In-Between", balanciert mit seiner ausgefeilten Geräusch-Klang-Fantasie durch das längste der aufgeführten Stücke. Der Brite Daniel Kidane, er stammt von einer russischen Mutter und einem eritreischen Vater ab und studierte in St. Petersburg, beweist mit seinem Streichquartett "Foreign Tongues", wie temperamentvoll er sich die europäische neue Kammermusik angeeignet hat.

Der New Yorker Alvin Singleton, Jahrgang 1940, komponierte "Again" und lässt hören, dass er die bei Meistern wie Charles Wuorinen und Goffredo Petrassi in Rom aufgenommenen Klangideen elegant verarbeiten kann. Bei dem Poème "Invisible Self" des 1978 geborenen Südafrikaners Andile Khumalo, Doktor der Musikwissenschaft, der bei Großmeistern wie Tristan Murail und Marco Stroppa komponieren gelernt hat, dominiert der französische "Spektralstil", das Musizieren entlang bunt und kreischend gebrochener Klangfarben. Und die Kubanerin Tania León schließlich, Komponistin und Dirigentin großer Orchester, Festivalgründerin in New York und anderswo, hat ihr "Indigena" für großes Kammerorchester komponiert, eine kurzzeitig zündende, mit historischen Anspielungen frech um sich werfende Musik.

Wie einleuchtend perfekt oder mehr konfus organisiert die experimentellen Klanglandschaften des musikalisch Neuen allerorten auch sind, lauter zersplitterte Denk- und Spielarten "fortgeschrittener" Kunstmusik, so komplex und letztlich angepasst an den Musica-Nova-Mainstream erscheinen die maßvollen Eigenwilligkeiten auch des hier beschworenen "Afro-Modernism": Alle Akteure sind etabliert in den Nischen einer zerfransten internationalen Avantgarde. So digitalisiert gehört und gestreamt gesehen machen die vorgezeigten Resultate der Berliner Maerzmusik richtig gute Figur.

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