Lords in Geldnot:Tausche Schloss gegen Stamm in Papua-Neuguinea

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Der englische Adel, der 1000 Jahre lang ungestört auf seinen Landsitzen saß, muss heute schauen, wie er seine kostspieligen Besitztümer finanziert.

Susanne Utzt

"Sieh über diese Mauer. Sie umgrenzt unseren Besitz", sagt Graf Greystoke zu seinem Enkel John, alias Tarzan. Der blickt ihn mit großen Augen an. In dem Hollywoodfilm "Greystoke - Die Legende von Tarzan" versucht der greise Greystoke seinem Enkel die Pflichten eines Erben einzuschärfen. Tarzan, gerade erst der Welt des Dschungels entrissen, lernt seine wichtigste Lektion: "Verkaufe nie! Halt alles zusammen, Johnny! Land ist das Lebenselixier unserer Familie."

Skibo Castle in Sutherland, Schottland (Foto: Foto: dpa)

Tatsächlich beginnt die Geschichte vom Niedergang des Adels meist beim Verlust der wichtigsten Grundlagen seiner Macht: Farmland und Stammsitz. Doch was heißt schon Niedergang? Während in Kontinentaleuropa seit 1789 immer mehr Schlösser und Ländereien zerstört, enteignet und damit die alten Eliten entmachtet wurden, lief auf den britischen Inseln alles weiter nach Gusto der Mächtigen. Im good old England bestimmten noch im 20. Jahrhundert die Lords im Oberhaus die politische Linie. Die reichsten Männer stammten noch immer aus dem Erbadel. Und der Familiensitz repräsentierte noch Macht und Geschmack. Der Herr fuhr zu Geschäften nach London, die Dame klingelte im Drawingroom nach Tee, die Diener tranken im Keller ihr Ale und draußen blökten die Schafe und blühten die Rosen.

85.000 Pfund Haushaltsgeld

"Absoluter Quatsch", sagt Sir Benjamin Slade, 7. Träger des "Baronet"-Titels in seiner Familie. Er hält solche Thesen vom englischen Adel als Gewinner der Geschichte für dummes Gerede. Selbst die Tatsache, dass hier noch über sechzig Prozent des Bodens und zwei Drittel aller historischen Gebäude in privater Hand sind, ändert an seiner Meinung nichts. Sir Ben sitzt auf dem verschossenen Sofa im Salon seines Familiensitzes in Somerset und starrt auf die Ahnengalerie. Zu seinen Vorfahren, erwähnt er trocken, gehören "der schlechteste General der britischen Geschichte und eine Geliebte von Gandhi". Slades "bessere Hälfte" Kirsten bringt Tee, er lockert seinen Krawattenknoten. Soll sie doch raus, die Wut. "In so einem Haus zu leben, ist heute hartes Business. Ich bin 60. Mein Leben lang war ich Geschäftsmann. Und ich hab die Schnauze voll." Viel lieber will Slade in einem Bungalow leben, ausschlafen, jagen gehen. Und keine Angstzustände mehr haben, wenn er mal zwei Wochen in den Urlaub fährt.

Vor einem Vierteljahrhundert hat Sir Ben "Maunsil House" übernommen. Von Tante Freeda, einer "schrecklichen Person". Statt das Beste aus der Zwickmühle viel Besitz - Geld zu machen, hatte sie sich in zwei Zimmer zurückgezogen, sich fast ausschließlich von Marsriegeln ernährt und ab und zu Feuer im Haus gelegt, in der Hoffnung, große Versicherungssummen zu kassieren. Das klappte leider nicht - das Haus war viel zu feucht für ein richtiges Feuer. Sir Ben aber übernahm das Haus als halbe Ruine.

Man kann verstehen, dass Sir Ben endlich seine Ruhe haben will. Jedes Jahr mindestens 85.000 Pfund für den Erhalt von "Maunsil House" mit seinen 33 Zimmern und 13 Badezimmern, für die Kirche, den Garten und die Nebengelasse erwirtschaften zu müssen, ist anstrengend. Ganz zu schweigen von dem Geld, das für Restaurierungsarbeiten und die Gehälter der vier Angestellten nötig ist.

Nur: Kein Erbe, kein Ruhestand im Bungalow. So weit geht Slades Traditionsbewusstsein dann doch. Solange der 7,5 Millionen Pfund schwere Besitz nicht an einen Erben weitergegeben wurde, muss sein Ruhestandstraum unerfüllt bleiben. Trotz der "100-jährigen Rezession", wie Slade das 20. Jahrhundert nennt, wird er nicht wie viele andere seinen Familiensitz verkaufen oder dem National Heritage - der englischen Denkmalschutzorganisation - übergeben.

Ob es ein Erfolg war, was sich der kinderlose Slade letztes Jahr zur Kür eines geeigneten Erben ausgedacht hat, kann man noch nicht sagen. Weil er seine nahen englischen Verwandten für "zu arm oder zu faul" für die Übernahme des Besitzes hält, hat er international und öffentlich nach einem Erben gesucht. Schließlich waren viele Slades in die frühen Kolonien nach Amerika, später nach Australien oder Indien ausgewandert. Nachfahren mit ausreichend Kapital musste es also einige auf der Welt geben. Anforderung an den Ideal-Kandidaten: Er solle Slade heißen und mit seinen Mitteln den Besitz erhalten können.

Dann kamen 10.000 Zuschriften

Nahezu alles wurde Sir Ben angeboten. Heirat, Sex. Die Regentschaft über einen Stamm in Papua. Ein Inder hatte sich aus einem Gefängnis in Delhi gemeldet. Ein Slade solle mit seiner Großmutter ein fruchtbares Verhältnis gehabt haben, schrieb er. Er sei bereit, den Besitz nach Ablauf seiner Haft zu übernehmen.

Auch wenn er selbst nie so amüsiert wirkt wie seine Zuhörer, erzählt Slade diese Geschichten gern. Schließlich gibt es in den 39 Grafschaften Englands Hunderte Schlösser und Herrenhäuser. Alle buhlen mit ähnlichen Angeboten um ein immer verwöhnteres Publikum: Ausrichtung von Hochzeiten und Tagungen; Museen, spektakuläre Gärten und Events. Da kann es nie schaden, ein wenig exzentrisch zu sein - und damit vielleicht auch Berichte in der Presse zu lancieren, die zusätzlich für Aufmerksamkeit sorgen.

"Alle, die ethnic, schwul, linksextrem oder alternativ sind, kommen als Erbe schon mal nicht in Frage", beschreibt Slade seine Ausmusterungskriterien. Man merkt, es freut ihn diebisch, nicht "pc" zu sein. "Mir ist Unternehmergeist auch wichtiger als das Ergebnis der DNA-Tests". Mit der DNA war das sowieso eine komische Sache. Da rief auch dieser schwarze Slade aus North Carolina an, um dessen Farm herum jede Menge weitere Schwarze mit Slade-DNA leben sollen. "In der Gegend muss sich einer der Schwerenöter der Familie herumgetrieben haben", meint Slade lakonisch. Zwei amerikanische Filmproduktionen haben schon Interesse angemeldet, in "Maunsil House" eine Art "Big Brother: Auf der Suche nach dem perfekten Erben" zu drehen. Noch streiten sie um die Etats.

Wie der Baronet so auf dem Sofa sitzt und die Ungerechtigkeit seines Schicksals vorrechnet, kommt der Verdacht auf, dass es mit dem englischen Landadel doch nicht so weit her ist. Dabei sieht es von außen so anders aus. An jeder Ecke des Königreichs trifft man auf Herrenhäuser und Schlösser, die seit 500, manchmal seit fast 1000 Jahren von einer Familie bewohnt werden. Sie sind umgeben von blühenden Gärten und ausgedehnten Ländereien. Die mittelalterlichen Familiengräber in den Kapellen, die Dienstbotenklingeln in den Salons, die Kletterglyzinien an den Fassaden, die Familienarchive, Bibliotheken und die Nebengelasse, aus denen die Jagdhunde kläffen - was immer man ansieht, atmet den ruhigen Atem einer langen und unaufgeregten Geschichte.

Einmaleins des Schreckens

Tatsächlich waren die Briten im Gegensatz zu allen kontinentalen Adligen nie Opfer einer bewaffneten Invasion, eines Systemumsturzes oder eines Bürgeraufstands. Die noch immer mächtigste aristokratische Elite Europas geht - noblesse oblige - ganz allmählich, fast lautlos unter. Vielleicht war es das, was Sir Ben mit "100-jähriger Rezession" meinte.

"Es hat sich gerächt, dass hierzulande Wohlstand wie nirgends sonst an Grundbesitz gebunden war", meint Lord de L'Isle, ohne Titel schlicht: Philip Sidney. Seit 450 Jahren bewohnt seine Familie Schloss Penshurst in der Grafschaft Kent - eines der schönsten spätmittelalterlichen Schlösser Englands. Der Lord steht in der imposanten "Great Hall", dem Herzstück des Schlosses, und referiert das Einmaleins adliger Schreckensszenarien: Landverlust, Steuererhöhungen, Arbeitsverteuerung. Er trägt den Bauch stolz vorgereckt, darüber eine gelbe Krawatte mit Stachelschweinen - dem Familienwappentier. "1950 war der Landpreis noch genauso hoch wie 1880. Überlegen Sie mal, was dieser Wertverfall in einer Welt bedeutet, in der alle anderen Preise enorm gestiegen sind."

Da Grund und Boden immer wertloser wurden bei gleichzeitiger Verteuerung aller Dienstleistungen, musste zur Tilgung der laufenden Kosten immer mehr Besitz abgestoßen werden. Bis in die siebziger Jahre hatten selbst die größten und hartnäckigsten Familien fast die Hälfte ihres Grunds verloren. Und dann war da noch die Sache mit den Steuern.

Mit der Labour Partei war 1945 die adelsfeindlichste Regierung aller Zeiten angetreten. Die Erbschaftssteuer auf Besitz, der über eine Million Pfund wert war, stieg auf bis zu 80 Prozent. Auch für die Familie von Lord de L'Isle wurde die Situation immer schwieriger. "Um 1970 herum bat mein Vater mich in den Club in London, dem wir angehören", erzählt Sydney. "Dort haben wir lange diskutiert, ob wir auswandern oder verkaufen sollen. Am Ende waren wir zu betrunken, um irgendetwas zu entscheiden."

Die Sidneys konnte ihren Besitz zusammenhalten. Lord de L'Isles Vater gehörte zu den Ersten, die ihr Anwesen gegen Eintritt dem Publikum öffneten. Er verpachtete Land, betrieb Geschäfte im Dorf, die Post, eine Tankstelle. Allerdings musste ab und zu ein Möbel oder ein Bild verkauft werden, erzählt der Sohn, selbst schon 61. An dieser Stelle tastet er nach dem nächsten Schrank, hält sich am Holz fest und murmelt: "Gott gib, dass ich nie wieder etwas verkaufen muss!"

Während Senior und Junior de L'Isle damals die Dramatik der Lage in ihrem Herrenclub mit Whiskey herunterspülten, hatten andere längst aufgegeben. Der fatale Mix aus gesunkenen Landpreisen und gestiegenen Steuern hatte sie ruiniert. Viele Familiensitze wurden zerstört, weil sie weder zu erhalten noch zu verkaufen waren. Einige konnten ihre Häuser ans English Heritage oder privat veräußern. Sie gingen nach London oder in die Ex-Kolonien, um dort einen Neuanfang zu versuchen. Die meisten schafften es, die anderen bildeten die neue Kaste der nouveaux pauvres, der Neuarmen.

Doch dann ging ein Aufschrei durch England. 1974 veranstaltete das Victoria and Albert Museum eine Ausstellung mit dem Titel "Die Zerstörung der englischen Landsitze". Die Botschaft: schon über 400 Schlösser und Herrensitze zerstört! So hatte man sich das mit der Gleichheit auch wieder nicht vorgestellt. Schließlich hingen die Engländer an den Herrenhäusern und deren Bewohnern - genauso wie an ihrer Queen. Ein Steuertrick machte dem Schrecken ein Ende. Bis zu 50-prozentige Erlasse auf Erbschaftssteuern wurden gegeben, wenn die Familie ihren Stammsitz der Öffentlichkeit zugänglich machte.

Ein merkwürdiger Handel: Die Reichen müssen weniger Steuern zahlen. Dafür müssen sie die Armen durch ihr Haus laufen lassen. Die Armen müssen zusätzlich Eintritt zahlen, damit die Reichen ihre kostenintensiven Besitztümer erhalten können. Natürlich nicht für sich. Sondern für England. Weil die Güter der Reichen durch die Steuervergünstigungen zur Hälfte dem Staat gehören, können sie auch nichts verkaufen. So sind sie eigentlich nur noch virtuell reich. Und richtiger "Landadel" sind sie auch nicht mehr, weil das Geld heute statt mit Landwirtschaft durch Industriebeteiligungen, urbane Dienstleistungsjobs und die Schlossvermarktung verdient wird.

Macht alles nichts. Wie heißt es in dem britischen Bestseller "Englands 1000 schönste Herrenhäuser" so treffend: "Ein Haus ohne Bewohner ist wie eine Schule ohne Kinder." Deshalb halten sich die Engländer ihre übrig gebliebenen Landadligen auch weiterhin als eine Art "Bewahrer der Geschichte". Und deshalb ist es auch nicht so schlimm, wenn der subventionierte Landadel in einigen Fällen reicher ist, als er zu sein vorgibt.

Die Sidneys auf Schloss Penshurst gehören nicht zu den Superreichen, wie die Grafen von Westminster oder Beaufort. Sie leben weder im Überfluss noch in existenzieller Not. Mit 60.000 Besuchern im Jahr, großen Veranstaltungen und Landverpachtung können sie zwar ihre 40 Teilzeitkräfte, die sieben Monate im Jahr von Montag bis Sonntag arbeiten, finanzieren. Doch was die ständig notwendigen Reparaturen betrifft, so Lord de L'Isle, läuft ohne zusätzliche Mittel vom Denkmalschutzamt nur das Sparflammenprogramm: "Zweimal im Jahr kommt unser Restaurator mit seinem Klebstoffeimer vorbei und leimt alles, was kaputtgegangen ist."

Wie damals, im 14. Jahrhundert

Lord de L'Isle verkörpert etwas, das Sir Benjamin Slade vermissen lässt, wenn er meint, die "gute alte Tradition" bestehe vor allem im "Profitmachen". Es ist dieser lebensübergreifende Zeithorizont einer jahrhundertealten Familie, der immer mitschwingt. Tote, Lebendige und noch Ungeborene werden in allen Entscheidungsprozessen mitgedacht. Der "Generationsvertrag" wird nicht diskutiert, er ist selbstverständlich. Seine Erfüllung spiegelt sich im "next generation file", dem Ordner mit allen noch zu lösenden Aufgaben, der dem ältesten Sohn und nächsten Erben von Schloss Penshurst am 21. Geburtstag übergeben wird.

Philip Sidney Junior ist gerade 21 geworden. Zum festlichen Anlass brannte in der "Great Hall" ein Feuer, wie schon im 14. Jahrhundert. Alle Angestellten und Dorfbewohner waren zum Empfang geladen, bevor sich die Familie zum festlichen Dinner zurückzog. Zwischen den Gängen wurde kistenweise Champagner getrunken. Lord de L'Isle hielt sich zugute, auf Schloss Penshurst Computer und ein modernes Management eingeführt zu haben. Er erinnerte an den Großvater und wie entschlossen der begonnen hatte, aus dem Familiensitz eine Firma zu machen. Der Enkel, sein Sohn, hätte jetzt die Aufgabe, Penshurst in ein Unternehmen zu verwandeln, das mit den Entwicklungen des 21. Jahrhunderts Schritt halten könne. Applaus. Kurz darauf wurden die Gäste verabschiedet. Die Reinigungskräfte mussten schließlich noch einmal durch, um den Saal für den Museumsbetrieb am nächsten Morgen fertig zu machen.

© SZ vom 09.08.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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