Literaturnachlasshandel:Manuskripte für Millionen

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Noble Post aus Stockholm: Die Nobelpreisstiftung bestätigt den Empfang eines Schreibens des Philosophieprofessors Hans Vaihinger, der jahrzehntelang versuchte, Nietzsches Schwester und Nachlassverwalterin Elisabeth Förster-Nietzsche gegen alle Regeln für den Literaturnobelpreis ins Spiel zu bringen. (Foto: Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar)

Martin Walser, Doris Lessing, Kazuo Ishiguro: Das Verhältnis von literarischen Nachlässen und Literaturauszeichungen hat sich in den vergangenen 100 Jahren dramatisch verändert.

Von Carlos Spoerhase

Als das Deutsche Literaturarchiv Marbach jüngst den Erwerb des Vorlasses von Martin Walser kundgab, wurde sofort spekuliert, welche Summe für das nicht weniger als rund 75 000 Seiten umfassende Manuskriptarchiv und die Arbeitsbibliothek des Schriftstellers geflossen sein mag. Es wird ein ansehnlicher Betrag gewesen sein. Um das beträchtliche finanzielle Engagement zu legitimieren, wurde in der Pressemitteilung hervorgehoben, dass Walser den Georg-Büchner-Preis, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis erhalten habe. Wie aber hat sich die heute gängige Verknüpfung von archivalischem Vorlassbegehren und literarischem Preiswesen etablieren können?

Vor 100 Jahren, im Sommer 1922, bemüht sich eine kleine Professorengruppe intensiv darum, eine deutsche Schriftstellerin und Nachlassvirtuosin für den Literaturnobelpreis vorzuschlagen: Elisabeth Förster-Nietzsche. Sicherlich kein Name, der einem als erstes einfiele, wenn man nach preiswürdigen Literatinnen des frühen 20. Jahrhunderts gefragt würde. Schon 1908, 1916 und 1917 war die Schwester Friedrich Nietzsches von dem Hallenser Philosophieprofessor Hans Vaihinger für den Schwedischen Literaturpreis nominiert worden. 1922 unternahmen der klassische Philologe Georg Goetz, der Germanist Ernst Bertram, der Historiker Kurt Breysig und Hans Vaihinger schließlich einen großen letzten, wenn auch vergeblichen Versuch.

Elisabeth Förster-Nietzsches Umgang mit den Manuskripten ihres Bruders weist bereits alle wesentlichen Elemente der heutigen Nachlasspraxis aufweist

Für die Unterstützer Förster-Nietzsches war sie als Autorin diverser biografischer Schriften über ihren Bruder eine bemerkenswerte Schriftstellerin. Diese Position überzeugte in Stockholm allerdings nicht. Blickt man in die Gutachten der Schwedischen Akademie, so heißt es schon 1908, dass die Schriften der Nominierten "unkritisch und anekdotisch" sowie "extrem voreingenommen" seien. Auch 1916 ist erneut davon die Rede, dass die Nietzsche-Biografie "keineswegs objektiv und kritisch" sei. Dass Förster-Nietzsches publizistische Aktivitäten weder philologischen noch historischen Ansprüchen genügten, schien für die Schwedische Akademie offensichtlich gewesen zu sein. Die wiederkehrenden Nominierungen mündeten daher in der Mutmaßung, die Anstrengungen der deutschen Professoren seien wohl eher "der Bewunderung und Frömmigkeit für Nietzsche als einer ebenso hohen Wertschätzung der Biographie der Schwester" geschuldet.

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Ganz falsch lag die Akademie damit nicht. Ein im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar liegendes Konvolut gibt Einblick in die Vorbereitungen der Nominierungen: Die deutschen Professoren schätzten Förster-Nietzsche vor allem, weil sie sich als Gründerin des Nietzsche-Archivs um den Nachlass ihres Bruders verdient gemacht hatte. Sie sollte als "die geistige Leiterin und die Seele des Archivs" ausgezeichnet werden.

Virtuosin der Nachlasspflege: Elisabeth Förster-Nietzsche war nicht nur die Schwester, sondern vor allem auch eine extrem umtriebige Verwalterin des literarischen Erbes ihres Bruders, des Philosophen Friedrich Nietzsche. (Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo)

Tatsächlich hatte das von Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar errichtete Archiv seit dem Ableben ihres Bruders einen Umgang mit dessen Manuskripten an den Tag gelegt, der bereits alle wesentlichen Elemente der heutigen Nachlasspraxis aufweist: Sie sammelte alles unveröffentlichte Material, von nachgelassenen Werkentwürfen bis hin zu beiläufigen Skizzen und nebenher Notiertem. Sie ließ viele Papiere, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, in diversen Nietzsche-Werkausgaben abdrucken. Auf längere Sicht plante sie eine monumentale "Gesamtausgabe aller Schriften". Damit aber nicht genug. Wie in heutigen Literaturarchiven kümmerte sie sich um den Erhalt der Arbeitsbibliothek Nietzsches, bemühte sich um die Beschaffung aller Erstdrucke des Philosophen und sammelte die bereits aufblühende Nietzsche-Forschung. Die Leistung der Schwester war einem Nominierungsschreiben zufolge, dass sie dies alles "an einem Ort" vereinige.

Wie der Philosoph Vaihinger in seinem Nominierungsschreiben von 1916 ausführt, soll das Stockholmer Preisgeld diese Aktivitäten endlich auf eine sichere finanzielle Grundlage stellen. Er versichert, er übernehme "persönlich die Garantie dafür, dass, falls Frau Dr. Förster-Nietzsche den Literaturpreis erhalten sollte, dieser ausschließlich den Zwecken der Nietzsche-Stiftung dienstbar gemacht werden würde". In Stockholm notierte man in dem internen Gutachten dazu, dass die Schwedische Akademie zwar befugt sei, einen Nobelpreis an eine Institution zu vergeben, dass es in diesem Fall aber keinen Grund gebe, dies zu tun.

Die großen globalen Literaturarchive duellieren sich um die Manuskripte der renommiertesten Autoren

Da der Literaturnobelpreis grundsätzlich nicht postum verliehen wird, sollte die Verleihung an das Nietzsche-Archiv letztlich auch dazu dienen, Friedrich Nietzsche wenigstens indirekt die weltweit angesehene Auszeichnung zu verschaffen. Und wer hätte eine solche Ehrung in höherem Maße verdient als ein Autor, dessen beiläufigste Kritzeleien schon zu Lebzeiten in einem eigenen Archiv gesammelt und andächtig aufbewahrt wurden?

Heute, 100 Jahre später, erscheint die Situation umgekehrt: Wer eine bedeutende internationale Auszeichnung wie den Literaturnobelpreis erhält, bekommt in Windeseile ein Angebot von einem renommierten Literaturarchiv. Im Bereich der Literatur ist die Verbindung zwischen internationalem Preiswesen und Archivierungspraxis in den vergangenen Jahrzehnten auffällig eng geworden. Die großen globalen Literaturarchive in Harvard, Stanford, Yale oder an der University of Texas befinden sich in einem Konkurrenzkampf um die Manuskripte der renommiertesten Autoren. Das im texanischen Austin angesiedelte Harry Ransom Center beherbergt die umfangreichen Vorlässe der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee und Kazuo Ishiguro. Hinzu kommt eine lange Liste von weiteren Literaturnobelpreisträgern wie etwa Doris Lessing, Gabriel García Márquez, Isaac Bashevis Singer, Samuel Beckett und Ernest Hemingway.

Auch wenn das Harry Ransom Center sich bemüht, die Kaufsummen der Vorlässe und Nachlässe unter Verschluss zu halten, sickern die Beträge doch immer wieder durch: Für Coetzee sollen einige Jahre nach der Nobelpreisverleihung 2003 anderthalb Millionen Dollar bezahlt worden sein; der Nachlass des 1982 ebenfalls in Stockholm ausgezeichneten Gabriel García Márquez soll für rund zwei Millionen Dollar in den Süden der USA gewandert sein.

Höchstpreise kann das texanische Archiv zahlen, weil es von wohlhabenden privaten Förderern unterstützt wird

Aufgrund der Bereitschaft der finanzstarken Texaner, hohe Summen ihres Ölreichtums für die zerstreuten Papiere von Schriftstellern aufzuwenden, ist das amerikanische Sprichwort "Nichts kann in dieser Welt als gewiss gelten, außer Tod und Steuern" für das Nachlassgeschäft adaptiert worden: Für hochdekorierte Schriftsteller sei mittlerweile nichts so gewiss wie der Tod und die anschließende Veräußerung des Nachlasses an das Harry Ransom Center: "Death and Texas". Höchstpreise kann das texanische Archiv häufig deshalb zahlen, weil es sich nicht allein aus Steuermitteln finanziert, sondern auch von wohlhabenden privaten Förderern unterstützt wird.

Das Harry Ransom Center im texanischen Austin beherbergt die Vorlässe der Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee und Kazuo Ishiguro sowie die Nachlässe der Literaturnobelpreisträger Doris Lessing, Gabriel García Márquez, Isaac Bashevis Singer, Samuel Beckett und Ernest Hemingway. (Foto: Imago Images)

Es waren nicht schon immer so große Beträge im Spiel. Die nordamerikanischen Archive und Bibliotheken haben sich seit den Fünfzigern auf den Ankauf der Manuskripte moderner Schriftsteller verlegt, weil diese günstig zu haben waren. Alte Handschriften und Bücher ließen sich damals nur noch für hohe Summen auftreiben - wenn überhaupt, denn die meisten attraktiven Objekte befanden sich zu diesem Zeitpunkt längst in europäischen Beständen. Im Feld der angloamerikanischen Literaturen muss man heute auch für die Manuskripte von lebenden Schriftstellern ein halbes Vermögen aufwenden, weil sich mittlerweile ein internationaler Markt für Vorlässe etabliert hat. Befeuert von dem enormen Interesse am Archivgut von Gegenwartsautoren kümmern sich global agierende Literaturagenten wie Andrew Wiley nun auch um die Vermarktung der Vor- und Nachlässe und nutzen den scharfen Wettbewerb zwischen den großen amerikanischen Bibliotheken und Archiven, um die Preise in die Höhe zu treiben.

Typisch für das Nachlasswesen ist die Feier des Flüchtigen, auch Einkaufslisten oder Wäschezettel werden archiviert

Für die Archive behalten die hohen Investitionen in den Erwerb der Manuskripte von Gegenwartsautoren einen spekulativen Charakter. Es ist ja keineswegs ausgemacht, wie man das Renommee von Autoren bestimmen soll und ob die Reputation heute angesagter Schriftsteller auch morgen noch Bestand hat. Um die Unsicherheit des eigenen Agierens abzumildern, orientieren sich die Archive bei ihrer Bewertung auch an kulturellen Auszeichnungen wie dem Literaturnobelpreis oder führenden nationalen Literaturpreisen: Diese gelten als Indikatoren für die postume Durchsetzungsstärke der prämierten Autoren. Hätte Martin Walser schon den Literaturnobelpreis erhalten, wäre der für seinen Vorlass fällige Betrag sicherlich noch höher gewesen.

Da die Preise allein aber nicht schon die langfristige Reputation der Autoren garantieren, müssen die Archive selbst große Anstrengungen unternehmen, um den Wert ihrer kostspieligen Investitionen zu erhalten: Die Nachlässe werden aufwendig erschlossen und in Ausstellungen präsentiert, die nicht selten neben Manuskripten und Schriftutensilien auch Kleidungsstücke und Einrichtungsgegenstände zeigen. Dabei findet eine für das Nachlasswesen typische Feier des Flüchtigen statt: Auch Einkaufslisten oder Wäschezettel sollen Aufschluss über das Schaffen des Autors geben. So wird eine enge Verbindung von alltäglichem Leben und künstlerischem Werk nahegelegt, die dann von Literaturwissenschaftlern untersucht wird. Da dieser hohe Aufwand nur für wenige Autoren betrieben werden kann, neigt das Nachlasswesen dazu, bereits bestehende Ungleichheiten in der kulturellen Aufmerksamkeitsökonomie zu verstärken.

Als Elisabeth Förster-Nietzsche einst das Nietzsche-Archiv aus der Taufe hob, war ihr Bruder kaum noch ansprechbar. Heute erfreuen sich Schriftsteller nicht selten bester Gesundheit und haben noch einen guten Teil ihrer kreativen Karriere vor sich, wenn die großen Literaturarchive sich um ihre Handschriften und Einkaufslisten bemühen. Gegenstand der Verhandlungen sind dann nicht mehr nur die bereits akkumulierten Materialien, sondern auch das noch zu Schreibende. Literaturarchive sammeln heute also nicht allein das Vergangene, sondern schließen Wetten auf die Zukunft ab.

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