Literaturgeschichte:Der Moment des Verrats

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Auf seinem Selbstporträt mit Gaetano Cattaneo, Giuseppe Taverna und Carlo Porta ist Giuseppe Bossi (1777-1815) ganz links zu sehen. (Foto: Pinacoteca di Brera)

Wie kam Goethe zu seiner Deutung des "Abendmahls" von Leonardo da Vinci? Das Schiller-Museum in Weimar gibt in seiner Ausstellung "Goethe und Bossi" erhellende Auskünfte.

Von Gustav Seibt

Welche Geschichte erzählt das "Letzte Abendmahl" des Leonardo da Vinci? Der traditionelle Inhalt dieser unendlich oft gemalten biblischen Szene ist die Einsetzung des Sakraments von Leib und Blut durch den todgeweihten Erlöser Jesus Christus. Er nimmt ein Stück Brot und einen Kelch Wein und erklärt sie vor seinen zwölf Jüngern zu seinem eigenen "Leib" und "Blut". Der gläubige Christ, von Sünden gereinigt durch die Beichte, nimmt im Abendmahl den erlösenden Herrgott körperlich auf. Es ist das rätselhafteste, tief in heidnische Vorzeiten mit ihren Opferkulten zurückreichende Mysterium des Christentums. In der Geschichte dieser Religion war es nicht nur theologisch, sondern kriegerisch umstritten. Viel Blut wurde vergossen um das Geheimnis von Leib und Blut.

Leonardo da Vincis Mailänder Fresko gehört gewiss zu den zehn berühmtesten Gemälden der europäischen Kunstgeschichte, zugleich ist es eines der von Zeit und Umständen am meisten zerstörten klassischen Bilder. Goethe hat ihm vor zweihundert Jahren eine klassische Beschreibung gewidmet, die zweierlei bietet: eine Geschichte seiner äußeren Schicksale, also seines Verfalls bis in die Unerkennbarkeit einzelner Partien hinein, und eine erzählende Deutung des Inhalts. Sein Text ist eine der großen kunsthistorischen Auslegungen der deutschen Literatur. Obwohl er in einer modernen Ausgabe nur dreißig Seiten lang ist, kann aus ihm eine ganze Schule des Sehens entwickelt werden.

Goethe hatte das Original einmal selbst gesehen, 1788, bei der Rückreise aus Italien. Dreißig Jahre später, lange vor dem Zeitalter der fotografischen Reproduktion, war es ein günstiger Ankauf seines Großherzogs, der ihm den Anstoß für neuerliche Beschäftigung bot. Carl August war 1817 in Mailand gewesen und hatte dort Teile des Nachlasses des Malers und Kunsthistorikers Giuseppe Bossi (1777-1815) erworben. Bossi war vom kurz zuvor abgesetzten Vizekönig von Italien, Eugène Beauharnais, dem Stiefsohn Napoleons, mit einer Kopie von Leonardos bröckelndem und verblassenden Wandbild beauftragt worden, und zwar für eine Mosaikfassung. Statt Putz und Wandfarben sollten Hunderttausende kleiner farbiger Steine diese Ikone für die Ewigkeit sichern - eine echt napoleonische Idee. Sie wurde unter den Habsburgern dann auch zu Ende geführt, das von Bossi vorbereitete Mosaik (arg bunt für heutige Augen) befindet sich heute in der Minoritenkirche in Wien.

Ein großes Buch Giuseppe Bossis hatte Goethe vor sich, als er über Leonardos "Abendmahl" schrieb

Nach Weimar gelangten die archäologischen Vorstudien zu diesem Großunternehmen in Gestalt von Nach- und Durchzeichnungen in originaler Größe, die Bossi vor 1810 anhand mehrerer älter Kopien, aber auch im Kontakt mit dem Original erstellt hatte. Diese Serien von Röthelzeichnungen in anderthalbfacher Lebensgröße zeigen nur die Köpfe und die Hände der Apostel. Außerdem erstellte Bossi ein Faksimile von Leonardos originaler Bleistiftskizze vom Kopf Jesu Christi. All das lag nun Goethe zusammen mit einem großen Buch Bossis im Winter 1817/18 vor, als er sich daran machte, die Geschichte des Gemäldes archäologisch aufzubereiten und seine eigene Deutung zu entwickeln.

Dass wir heutigen Betrachter das in einer bequemen Ausstellung im Weimarer Schiller-Museum in aller Ruhe betrachten können, ist eine hinreißende, so bald nicht wiederkehrende Gelegenheit, so tief wie möglich in Goethes Kunstanschauung und Arbeitsweise einzudringen. Mehr noch als bei anderen Ausstellungen ist hier eine gründliche Vorbereitung lohnend, also mindestens vorangehende Lektüre von Goethes Text mit dem Titel: "Joseph Bossi über Leonard da Vinci's Abendmahl zu Mayland", am besten auch des reichhaltigen Katalogs.

Der Clou von Goethes Bilddeutung ist einfach: Leonardo habe nicht den Moment gemalt, in dem Christus das Abendmahl einsetzte, sondern den anderen, in dem er den Verrat eines der zwölf Jünger ankündigte: "Einer ist unter euch, der mich verrät." Dieser Satz ist das "Aufregungsmittel", das die zwölf Apostel zu vier Figurengruppen von je drei Personen zusammenfahren lässt, einer dramatischen Bewegung des Entsetzens, Fragens, Zweifelns, Beteuerns, samt dem wichtigsten Ausdrucksmittel einer südlichen Menschheit, den Gesten der Hände.

Man hat das zu Recht eine "prophanierende" Bildbeschreibung genannt, im Einklang mit Goethes durchgehender Deutungstechnik, die theologische, transzendente Inhalte auf reale und diesseitige, bestenfalls heidnisch-mythologische Vorgänge und Muster zurückspiegelt, also in die Immanenz des Diesseits holt. Das Mysterium von Leib und Blut nennt Goethes Text mit keinem Wort. Mit begeisterter Liebe zu einer leidenschaftlich erregten Menschheit mustert er dagegen die Figuren, Köpfe und Hände der Jünger durch. Man kann Stunden mit seinen Sätzen vor Bossis Skizzen verbringen und dabei übrigens auch Goethes nüchtern-ironische Diagnose ihrer Abgeleitetheit von einem unerkennbar gewordenen Urbild bewundern. Das ist eine Archäologie des Wissens in doppeltem Sinn: Die über mehrere Zwischenstufen entstandenen Kopien verweisen auf ein ideales, aber verlorenes Ideal; und die Reduktion des Mysteriums auf den allgemein menschlichen Vorgang des Verrats holt die Religion in den Mythos zurück.

Dass es dazu noch viele zeithistorische Geschichten zu erzählen gibt, macht der gelehrte Katalog klar. Dazu gehört Goethes Widerstand gegen die neureligiöse Kunst der Nazarener, seine Unbefangenheit gegenüber der imperialen Kunstpolitik des soeben untergegangenen napoleonischen Reichs und, nicht zuletzt, der Kontext der 1816 gegründeten Zeitschrift "Über Kunst und Alterthum", die Goethe bis zu seinem Tod fortsetzte. Sie wurde zum Gefäß seiner Kunstpolitik, seiner Zeitkritik und seiner absichtsvoll antipatriotischen, weltliterarischen Kommunikation mit geistigen Zentren wie Mailand, Paris oder Edinburgh. Dieses unbekannteste von Goethes Spätwerken hat erst die jüngste Philologie wieder sichtbar gemacht. Dass gleichzeitig zur Weimarer Bossi-Ausstellung im Frankfurter Goethe-Haus eine Schau über das Gesamtunternehmen von "Kunst und Alterthum" stattfindet, ist die ideale Koinzidenz des Jubeljahrs 2016. Der fernste und jüngste Goethe wird gerade 200 Jahre alt.

Von Leonardo fasziniert: Giuseppe Bossi und Goethe. Bis 13. November. Schiller-Museum Weimar. Katalog 33 Euro. Info: www.klassik-stiftung.de

© SZ vom 10.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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