Literaturfest München:Ein Bollwerk, das Natur für sich erbaut

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Autoren diskutieren, welche Folgen der Brexit für die englische Dichtung hat.

Von Nicolas Freund

Etwas Gutes habe ja das Brexit-Chaos der vergangenen Woche, als die britische Premierministerin Theresa May begleitet von Ministerrücktritten den Austrittsvertrag vorlegte, meint der Germanistikprofessor Jeremy Adler: Jetzt lerne man wenigstens mal diese ganzen Minister kennen. "So gesehen war das alles sehr lehrreich."

Das Brexit-Referendum kann ganz ohne Ironie als die größte Zäsur in der Geschichte Großbritanniens seit dem Zweiten Weltkriegs bezeichnet werden. Obwohl noch immer völlig unklar ist, was auf das Land zukommt, sind die Auswirkungen des geplanten EU-Austritts bereits in allen Lebensbereichen spürbar. Für das Forum Autoren beim Literaturfest in München hat Jan Wagner deshalb einen Querschnitt durch die britische Literaturszene eingeladen, um zu diskutieren, was der Brexit und der mit ihm einhergehende Populismus für das Land und die Literatur bedeutet. Neben Jeremy Adler sitzen die Dichterin Sujata Bhatt, die Dichterin Jo Shapcott, der Autor John Burnside und David Constantine, der unter anderem Goethe ins Englische übersetzt hat, auf der Bühne des Literaturhauses.

Weil hier eine britische Literaturrunde versammelt ist, wirft der Moderator Jeremy Adler zuerst ein Shakespeare-Zitat aus "Richard II." in den Raum: Johann von Gaunt, der Herzog von Lancaster, lobt darin "dies Reich, dies England" als " zweites Eden", ein "Bollwerk, das Natur für sich erbaut", "der Ansteckung und der Hand des Krieges" trotzend. Das Zitat beschwört die Insel als paradiesischen Ort, aber in der Beschwörung steckt schon der Zweifel, als müssten die Worte erst erschaffen, was sie behaupten.

Von links nach rechts: John Burnside, Sujata Bhatt, Jeremy Adler, Jo Shapcott und David Constantine. (Foto: Juliana Krohn/Literaturfest München)

Was denn die hier Versammelten von diesem Zitat halten, fragt Adler. John Burnside ruft von dem historischen Drama ausgehend gleich den ganz großen Kontext auf. Die Probleme hätten schon 1066 begonnen, als die Normannen in England einfielen. Nicht, weil davor alles so wunderbar gewesen wäre, sondern weil sie den König als Landbesitzer eingeführt hätten. Die bis heute teils absurden Immobilienbesitzverhältnisse in Großbritannien würden zu einer Entfremdung der Menschen beitragen. Darin läge der Ursprung vieler aktueller Probleme. Die Royals werden auch später von Jo Shapcott angeführt als eine maßgebliche Ursache für die extrem starren gesellschaftlichen Klassen in Großbritannien, die eine Blasenbildung fördern, von der auch die Brexitbefürworter profitierten. Das Königshaus wirke so von oben nach unten. Gleichzeitig wurde die Unterstützung für Unter- und Mittelschicht vor allem auch im Bildungsbereich unter Margaret Thatcher rabiat gekürzt.

Der Brexit sei ein Bildungs- und ein Klassenproblem. Bestätigen kann das Sujata Bhatt, die in Indien, das Teil des britischen Commonwealth war, geboren ist, lange in Großbritannien gelebt hat und inzwischen in Deutschland angekommen ist. Schnell wird klar: Jemand wie sie hat praktisch keine Chance auf gesellschaftlichen Aufstieg in Großbritannien. Sie beschreibt den alltäglichen und den institutionellen Rassismus auf den britischen Inseln, wobei ihr Sorge bereitet, dass letzterer zugenommen hat, wenn etwa asiatischen oder afrikanischen Wissenschaftlern grundlos die Einreise verweigert wird. Im Shakespeare-Zitat erkennt sie ein universelles Verklären der eigenen Heimat. Man ist sich einig, dass die Mechanismen, die zum Brexit geführt haben, ein globales Problem sind.

Für Jo Shapcott ist die Rhetorik des Zitats einfach Propaganda. Propaganda, wie sie auch von den Brexit-Aktivisten benutzt wird, die Ängste schürt und an die Nostalgie für eine verklärte Vergangenheit appelliert. "Damit einher geht ein Verfall der Sprache." David Constantine greift das auf. Für ihn zeige sich daran vor allem, wie Shakespeare im Englischen endlose Variationen von Menschenbildern entworfen habe. Dieser Umgang mit der englischen Sprache gelte nicht mehr: "Das Niveau des politischen Diskurses ist niedriger und gemeiner als er es zu meinen Lebzeiten je war. Jeder, der mit Worten arbeitet, wird traumatisiert, wenn er hört, wie heute geredet wird." Adler selbst sieht das von ihm gewählte Zitat geradezu apokalyptisch: Das England Shakespeares sei durch das Brexit-Referendum verloren gegangen. "Das Land ist stärker geteilt als jemals zuvor und man spürt das ständig." Der Brexit hat schon jetzt auch der Sprache geschadet.

Aber: "Da ist etwas im Gewebe der englischen Sprache, das uns zusammenhält", meint Adler. Denn man spricht immer auch die Sprache des anderen. Die Literaturszene sei außerdem eine starke Zivilgesellschaft mit etablierten Strukturen, die gelernt habe, auch ohne staatliche Unterstützung zu bestehen. Es gäbe enge Verbindungen zwischen internationalen Autoren, wie sie sich auf dieser Bühne vor allem zwischen Deutschland und Großbritannien zeigen.

Und diese werden mit großer Sicherheit bleiben. David Constantine findet dazu am Ende noch ein passendes Bild: Er las im Sommer 2016 in Paris in dem berühmten Buchladen "Shakespeare and Company", als nördlich der Stadt ein Priester von einem Islamisten ermordet wurde. Die Anschläge von 2015 waren noch so nah, dass die Stadt sofort abgeriegelt wurde und in Schockstarre verfiel. Draußen patrouillierten Polizisten und Soldaten, drinnen aber lasen Dichter aus sieben verschiedenen Sprachen, und es kamen immer mehr Besucher, obwohl der Raum schon zu Beginn überfüllt war. Alle wussten, was passiert war, aber niemand sagte etwas dazu. Man hörte den Lesungen zu und machte einfach weiter.

© SZ vom 19.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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