Bachmann-Preis:Hitze und wilde Wirklichkeit von allen Seiten

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Die Siegerin Sharon Dodua Otoo, 1972 in London geboren, lebt in Berlin. (Foto: Susanne Hassler/dpa)

Sharon Dodua Otoo gewinnt mit ihren Perspektivwechseln den Bachmann-Preis - und die Jury diskutiert Abseitiges.

Von Kathleen Hildebrand

Freitag, fünf nach zwölf. Das österreichische Verfassungsgericht hatte gerade entschieden, dass der rechtsnationale Norbert Hofer eine zweite Chance auf die Präsidentschaft bekommen würde, da hatte die Jury den umstrittensten Text des diesjährigen Bachmann-Preises fertig diskutiert. Es war eine der merkwürdigsten Jurydiskussionen, man muss ihre Merkwürdigkeit wohl der aufgeheizten Stimmung zurechnen, die in Europa herrscht und die auch vor dem ORF-Theater am türkis funkelnden Wörthersee nicht haltmacht.

In "Araber und Schakale", dem umstrittenen Text von Jan Snela, Jahrgang 1980, steht zum Beispiel dieser Satz: "Manches schien schiefgegangen bei der Verteidigung unseres Lands." Ein weltabgewandter junger Mann liegt auf einem Diwan, raucht Wasserpfeife, bindet sich einen Handtuch-Turban, spricht eine Sprache durchsetzt von arabischen Wörtern und nimmt einen heimwehkranken Flüchtling aus der Wüste auf. Snelas Text spielt in einem Mitteleuropa, das von Sand verschlungen wird und zu verwüsten droht. Der Klimawandel ist vorangeschritten. Die aus dem arabischen Raum kommen sind mit ihren Kamelen besser angepasst an die neue Natur: "Ja wozu lebte man denn im Abendlande?! Um noch um neun Uhr p. m. sich tot zu schwitzen?!"

Dass nur wenige Jurymitglieder die Ironie in diesem gekonnt artifiziellen Text sehen wollten, seinen Sprachwitz erkannten und die Karl-May-Satire gelten lassen wollten, die Snelas Text ist, grenzte an Boshaftigkeit. Gerade in einem Wettbewerb, der sich zugute hält, so genau wie kein anderer auf die Literatur zu schauen, müsste die Jury erkennen, was ihr da an Orientalismuskritik und Spiel mit Identitäten geboten wurde. Moderator Christian Ankowitsch nannte Snelas Text "riskant". Das war kein Euphemismus, sondern ein Bezug zurück zu Burkhard Spinnens "Rede zur Literatur" vom Eröffnungsabend, der angemahnt hatte, das Risiko der Kunst öfter einzugehen. Es muss wohl als Wiedergutmachung verstanden werden, dass "Araber und Schakale" am Ende doch auf der Shortlist für den Bachmann-Preis stand.

Gewonnen hat den Preis ein anderer, großartiger Text. Sharon Dodua Otoos "Herr Göttrup setzt sich hin" beginnt als Frühstücksszene, wie von Loriot inszeniert. Schwenkt dann aber um und erzählt aus der Perspektive eines Frühstückseis, das sich seinem Auftrag verweigert, hart zu werden - und überhaupt schon einiges erlebt hat in der Weltgeschichte. Das diffuse Ich, das hier spricht, ist schon ein Erdbeben gewesen, ein Lippenstift, es ist ein Wechselbalg der Reinkarnation. Ein Ich, das sich weigert, markiert zu sein, wie Jurorin Meike Feßmann sagte. Sharon Dodua Otoo hat Wurzeln in Ghana und Großbritannien, sie arbeitet in Berlin als Aktivistin für Flüchtlinge, Frauen und schwarze Menschen.

Von allen Seiten drängte in diesem Jahr die Wirklichkeit mal mehr, mal weniger subtil in die Texte, so vielfältig waren sie und so international waren die Hintergründe ihrer Autoren. Wann denn nun die Identitären kämen, um die Veranstaltung zu stören, fragte dann auch immer mal wieder jemand, mit einiger Sorge hinter dem Spott. Vor drei Monaten hatten Vertreter der nationalistischen Gruppierung eine Aufführung von Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen" gestürmt. Es kam aber kein Identitärer, vielleicht war das Wetter zu schön. Aber eigentlich reichte auch schon die Jury, um sich zu ärgern. Man war als Beobachter des Wettbewerbs erst am Ende wieder versöhnt mit ihr, die so oft so überraschend hilflos geurteilt hatte. "Was ist das für 1 Jury?" schrieb jemand nach der Lesung des israelischen Autors Tomer Gardi dem ORF ins Gästebuch, das im Foyer auslag. An Gardi waren die Juroren noch stärker gescheitert als zuvor bei Jan Snela. Er, der mit weit geöffnetem Blumenhemd las, aus dem sein Brustpelz quoll, hatte einen Text in "broken German" gelesen, in der Sprache also, die Einwanderer und Flüchtlinge nach einer Weile im Land zu sprechen lernen. Sehr warmherzig war dieser Text und komisch, voller Motive, die man hätte analysieren können.

Doch die Jury verstieg sich lieber in eine Debatte darüber, ob man Texte in "falschem Deutsch" derselben ästhetischen Betrachtung unterziehen könne wie andere. Das gipfelte in fragenden Gesichtern zu Tomer Gardi hin, als wollte man nun endlich wissen, wie gut der lustige Mann mit dem Brusthaar denn Deutsch könne. Gardi winkte herüber: "Ich kann Deutsch, ich verstehe alles, was Sie sagen." So unangenehm war diese Diskussion, dass man wegschauen musste, irgendwohin in diesem mit reinweißen Stoffbahnen abgehängten Saal. Aber was sieht man da? Seidenschalträgerinnen, alte Männer in beigen Outdoor-Westen und junge Männer, langbeinig und langhaarig, die in ihre Notizbücher Wörter wie "Zeitgenossenschaft" schreiben. Alle weiß, alle privilegiert. Ein bisschen Diversifizierung, etwas mehr von der wilden, bunten, gefährdeten Wirklichkeit täte dieser Veranstaltung sehr gut.

Am Tag vor der Abstimmung über die Preise machen die Juroren traditionell eine Bootsfahrt über den Wörthersee mit der Klagenfurter Bürgermeisterin. Das sanfte Schaukeln und Abstandnehmen von allerersten Eindrücken hat in diesem Jahr offenbar besonders gut getan. Mit Dieter Zwickys "Los Alamos ist winzig" erhielt ein künstlerisch sehr gewagter Text den Kelag-Preis. Zwicky hatte als Letzter gelesen, am Samstagnachmittag, als es draußen 30 Grad hatte. Die Gehirne mögen die richtige Temperatur gehabt haben für Zwickys wildes, beinahe plotloses Assoziationskettengekringel, die Zuschauer lachten wie im Delirium und fragten sich nicht mehr, ob sie dieses Sprachkunstwerk verstanden, das Zwicky in geruhsam verwundertem Schweizer Tonfall vortrug. Genau in dieser Sprache würde er gern den Weltuntergang kommentiert hören, sagte Juror Klaus Kastberger.

"Ich möchte nicht arbeiten, ich möchte meine Zeit mit Nichtstun verbringen"

Und dann war da noch Stefanie Sargnagel, die rot bemützte Revoluzzerin, die geschickt die Klippe umschiffte, die so ein bildungsbürgerlicher Wettbewerb für eine aus dem Anti-Establishment bedeuten kann. Sie gewann, wie erwartet, den Publikumspreis. Ihr hintergründiger Verweigerungstext hätte durchaus auch auf die Shortlist für den Hauptpreis gehört. "Ich möchte nicht arbeiten, ich möchte meine Zeit mit Nichtstun verbringen," schreibt sie, "ich bin ein Alien oder der Mondmann, ich will mir alles in Ruhe anschaun hier auf der Erde. Ich möchte lieber Gelehrte sein, nur ohne die anstrengende Leserei oder ich möchte Asketin sein, aber ohne den ganzen Verzicht."

Während die Jury diskutierte und sich nicht sicher war, ob genügend Kunst in ihrem Text drinstecke, saß Stefanie Sargnagel am Lesetischchen und schaute mal amüsiert, mal gelangweilt, stützte den Kopf auf die Fäuste und klopfte mit ihrem zusammengefalteten Manuskript auf der Tischplatte herum. Da saß eine, die dem Urteil dieser Jury nicht entgegenzuzittern schien, weil sie eh lieber schläft und trinkt als Karriere zu machen, und die weiß, dass sie es notfalls auch aushält, ihr Geld im Callcenter zu verdienen. Wirklichkeit und Kunst gehören zusammen. Am Ende hatte das auch die Jury verstanden.

© SZ vom 04.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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