Literatur:Schmetterlinge im Bauch

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Ein begnadeter Erzähler, ein Vortragender, eine Rampensau: Der Autor Frank Schätzing hat früher einmal in der Werbebranche gearbeitet. (Foto: Paul Schmitz)

Wie Frank Schätzing als Erfinder der "Leseshow" aus seinem neuen Bestseller in der Philharmonie ein multimediales Spektakel macht - und dabei trotzdem an Onkel Jürgen erinnert

Von Gerhard Matzig

Es sind etwa zehn Minuten vergangen, da taucht ein Bild auf, das kinoleinwandgroß in die Philharmonie hineinwinkt. Zu sehen ist am Münchner Gasteig die Golden Gate Bridge. Zu sehen ist Frank Schätzing. Es ist ein netter Schnappschuss, der den gebürtigen Kölner und geborenen Bestsellerautor auf großer Fahrt zeigt. Man hat Sympathie mit diesem Bild - da flüstert der nicht minder sympathische Nebenmann von Platz 36 Reihe 5 Block C: "Das erinnert mich an die Dia-Abende von Onkel Jürgen."

Das wäre als durchaus talentierte Boshaftigkeit ja noch zu verkraften. Vor allem für Schätzing, der Humor hat. Und auch genug Erfolg, um den Onkel-Jürgen-Hieb wegzustecken. Die Kritiker seiner Thriller ließ er kürzlich wissen, was die dächten, ginge ihm eh am Dings vorbei. Jedenfalls: Am Ende, nach anderthalb Stunden in der "Leseshow", mit der Frank Schätzing derzeit auf Tour ist, um sein neues Buch "Die Tyrannei des Schmetterlings" vorzustellen, da holt Platz 36 Reihe 5 Block C zum finalen Punch aus: "Rita Falk ist besser." Und da muss man jetzt doch mal ganz energisch widersprechen.

Nicht weil man die Erfinderin des Eberhofer-Krimis schlecht fände (wenngleich das Beste daran die Verfilmung sein könnte), sondern weil man Frank Schätzing so gut findet. Nämlich als Showmaster. Als Erfinder der "Leseshow", der aus der früheren "Autorenlesung mit Buch und Wasserglas im Stadtbücherei-Ambiente" ein multimediales Spektakel für breite Schichten gemacht hat. Schätzing hat die Autorenlesung neu erfunden. Das Publikum im Gasteig ist an diesem Abend jung, urban und bunt. Es will unterhalten werden, interessiert sich aber auch für die Folgen der Digitalisierung.

Man selbst ist auch deshalb hier, weil man unbedingt wissen will, ob es Schätzing gelingt, aus einem miserablen Buch eine gute Lesung zu machen. Um es vorwegzunehmen: Außer für die Hardcore- Rita-Falk-Fans und abgesehen von gewissen, sich gelegentlich in die Länge ziehenden Onkel-Jürgen-Momenten gelingt das Frank Schätzing gut. Das ist verblüffend und erstaunt nur jene nicht, die ohnehin finden, dass das Buch bei zeitgemäßen Buchlesungen keine allzu große Rolle beanspruchen sollte. Nach der, hm, Show nimmt man als analoger Buchfetischist freudig zur Kenntnis, dass sich eine Schlange von Leuten, die ein Buch signiert haben wollen, durch den Gasteig-Bauch windet.

Im neuen, bleischweren Werk des Autors, der mit dem "Schwarm" ein Millionenpublikum in aller Welt begeisterte, geht es um KI, künstliche Intelligenz - und das Buch ist deshalb so schlecht, weil es sich auf viel zu vielen Seiten ziellos in diverse, oft undeutlich bleibende Charaktere aufspreizt. Weil es sich seitenweise im Furor scheinbar kulturkritischer, pseudophilosophischer und insgesamt redundanter KI-Debattenaspekte verläuft. Und weil es sich schließlich auch noch komplett überflüssigerweise in die absurde Theorie der Multiversen verirrt. Auf der Strecke bleiben: das Thema, der Plot und die Spannung. Für einen Thriller ist das eher viertelideal.

Aber dennoch ist Schätzing, der einmal in der Werbebranche tätig war, ein begnadeter Erzähler. Ein Vortragender, der eigentlich eine Rampensau ist. Das ist alles andere als despektierlich gemeint.

Auf der Bühne sind aber erst einmal die suggestiv ausgeleuchteten Bilder der Sierra Nevada im Westen der USA zu sehen. Das ist der Schauplatz des Krimis, das Habitat von Undersheriff Luther Opoku. Zu hören ist ein sphärischer Sound, der an frühe Pink Floyd-Intros erinnert, die man mit Victor Vasarelys delirierenden Op-Art-Bildern kurzgeschlossen hat. Und dann steht mit einem Mal Frank Schätzing auf der Bühne. Wasserflasche und Glas gibt es auch, aber Schätzing trinkt aus der Flasche. Das passt zu den Cowboystiefeln. Unter dem legeren Sakko zur Jeans trägt er ein Shirt mit einem Aufdruck. Zu lesen ist nur "shi". Doch hat man kaum Zeit herumzurätseln, ob das nun auf Sushi oder Toshiba hinauslaufen könnte, weil Schätzing gleich zur Sache kommt. Indem er die ersten fünf Minuten vom Beginn seines Romans tatsächlich geradezu altmeisterlich im Wortsinn vorliest und währenddessen unruhig auf der Bühne herumtigert. Tock, tock, tock - die Cowboystiefel. Unruhig ist Schätzing, weil er das Lesen hinter sich bringen will. Weil er gleich danach übergeht zum Onkel-Jürgen-Vortrag vom Schauplatz des Romans, der auch Schauplatz der Schätzing-Recherchen ist. Wer das Buch kennt, freut sich auch über den schlafenden Hund vor dem Tresen. Und wer Schätzing kennt, der weiß, dass er souverän und völlig frei vortragen kann. Dass er Präsenz hat. Charme. Und ein Gespür fürs Timing - jedenfalls in der Leseshow. Im neuen Buch eher nicht ganz so.

Man folgt Schätzing gern durch eine Lesung, die auch Einsichten in das Denken des Autors bietet. Man wird Zeuge eines wortgenauen, klugen und zugleich geradezu heiter das Düstere beschwörenden Dialogs über KI und die Zukunft - mit der fulminanten Einspielung von Nora Waldstätten, die als Schauspielerin eine KI darstellt, in die man sich auf der Stelle verliebt. Leider wird man von ihr bald wie die Menschheit insgesamt getötet. Aber man wird sagen: Das war es doch wert.

Immer wieder hat Schätzing die Lacher auf seiner Seite. Wenn er von Plänen zur Lebensverlängerung um 200 Jahre berichtet, erwähnt er die Möglichkeit, man könne irgendwann einmal womöglich doch noch Zeuge eines in Teilen fertiggestellten Berliner Großflughafens werden. Ein leichter Treffer. Aber Schätzing ist auch dann gut, wenn er Special Agent Dale B. Cooper aus "Twin Peaks" nachahmt: "Verdammt guter Kuchen!"

Die Leseshow ist spannend, unterhaltsam, auf angenehme Weise belehrend und einfach: eine gute Schau. Am Ende würde man sich fast das Buch kaufen. Fast. Gerade rechtzeitig fällt einem wieder ein, dass man es vor einigen Wochen im Feuilleton böse verrissen hat. Vielleicht sollte man öfter zu Lesungen gehen und weniger lesen.

© SZ vom 11.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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