Literaturnobelpreis für Mo Yan:Beklemmend romantisch

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Seine Realität ist oft grausam, Mo Yan schreibt vom Kampf der kleinen Leute gegen den Moloch der Geschichte. Doch auf eine konsequente Weise bleibt der diesjährige Nobelpreisträger für Literatur unberechenbar in seinem Hin und Her zwischen Gewalt und Zärtlichkeit, Glück und Pech, Liebe und Tod. Schließlich beschreibt da einer die Launen der chinesischen Erfahrung im vergangenen Jahrhundert.

Tim Neshitov

Die Entscheidung, in diesem Jahr den chinesischen Schriftsteller Mo Yan zu ehren, dürfte der Schwedischen Akademie nicht leicht gefallen sein. Mo Yan vereine "mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart", heißt es in der Begründung. Diese Entscheidung bedeutet nicht nur eine Würdigung des Werks von Mo Yan, sondern sie relativiert den Entschluss der Akademie, vor zwölf Jahren den Preis an Gao Xingjian zu verleihen, einen damals kaum bekannten chinesischen Exilautor.

Gao Xingjian, der in Paris lebt, ist auch heute kaum bekannt. In Erinnerung bleibt vor allem seine Nobelvorlesung, die - bei allem literaturwissenschaftlichen Wert - die Stockholmer Entscheidung als politisch erscheinen ließ. Ein Schriftsteller, der seine geistige Freiheit bewahren wolle, sagte Gao damals, habe in China seit Maos Zeiten die Wahl zwischen Schweigen und Fliehen. "Beschränkungen der Literatur sind immer von außen aufgezwungen: Politik, Gesellschaft, Ethik und Bräuche machen sich daran, Literatur in Dekorationen für die eigenen diversen Rahmen hineinzuschneidern." Er selbst, Gao Xingjian, sei dagegen Vertreter einer Literatur, "die standhaft in ihrer Unabhängigkeit ist, die weder menschliches Leiden noch politische Unterdrückung meidet und zudem nicht der Politik dient."

Der nun geehrte Mo Yan, 57, gehört jedoch gerade zu jenen zahlreichen Schriftstellern, die sich im autokratischen System der Kommunistischen Partei Chinas zurechtgefunden haben. Zu jenen Autoren, welche das System nicht nur gewähren lässt, sondern neuerdings auch im Ausland zu popularisieren sucht - obwohl Mo Yan auch heikle Themen wie Behördenwillkür ("Die Knoblauchrevolte") oder die Ein-Kind-Politik ("Frösche") nicht scheut.

In einem Interview mit der britischen Literaturzeitschrift Granta sagte er kürzlich, Zensur sei "großartig für literarisches Schaffen". Bei "scharfen oder sensiblen Angelegenheiten" könne ein Autor seine Vorstellungskraft einsetzen, um Themen von der wirklichen Welt zu isolieren oder sie so zu übertreiben, dass die Schilderungen "mutig und anschaulich sind und die Unterschrift der realen Welt tragen." Diese Mischung meint wohl die Schwedische Akademie mit "halluzinatorischem Realismus".

Reaktionen auf Literaturnobelpreis für Mo Yan
:"Über jeden Zweifel erhaben"

Die Spekulationen haben ein Ende, der Literaturnobelpreis 2012 geht an den Chinesen Mo Yan. Die Reaktionen aus seiner Heimat sind äußerst gemischt. Von internationalen Schriftstellerkollegen kommt dagegen höchstes Lob. Martin Walser hält Mo Yan gar für den "wichtigsten Schriftsteller unseres Zeitalters".

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Jedenfalls scheinen Chinas Kommunistische Partei und einer der kreativsten Autoren des Landes ein dauerhaftes Modus vivendi gefunden zu haben. Seit Anfang 2010 steht Mo Yan auf der Liste der Schriftsteller, deren Werke mit staatlicher Förderung ins Englische übertragen werden. Im vergangenen Jahr bekam er den staatlichen Mao-Dun-Literaturpreis.

Mo Yan ist das Pseudonym von Guan Moye und bedeutet soviel wie "der Sprachlose" oder "ohne Sprache". Er wurde 1955, sechs Jahre nach der Ausrufung der Volksrepublik China, in der nordöstlichen Provinz Shandong in eine Bauernfamilie hineingeboren.

Viele seiner Romane spielen im Kreis Gaomi, einem fiktiven Kleinuniversum, das an seine karge Heimatstadt angelehnt ist und in China mittlerweile so bekannt wie in den USA William Faulkners Yoknapatawpha. Mo Yan schreibt klar, fast dokumentarisch und doch mit einer selbstverständlichen, unaufdringlichen Lyrik, die sich gerne auch mit magischem Realismus bemäntelt. Er schreibt vom Kampf der kleinen Leute gegen den Moloch der Geschichte. Seine Helden kämpfen gegen die japanischen Besatzer Ende der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, gegen korrupte Agrarbeamte Ende der achtziger Jahre, gegen verzweifelte Ärztinnen, die schwangeren Frauen nur eine Geburt erlauben (dürfen).

Es fließt viel Blut, und es fließen viele andere Körperflüssigkeiten in Mo Yans Büchern, seine Realität ist grausam. "Erst stürzte Großmutter zu Boden, dann spritzte eine Mischung von roter und gelber Flüssigkeit aus dem eckigen Schädel von Wang Wenyis Frau bis hinüber zu den Hirsehalmen neben der Böschung", so schildert er in der Novelle "Die rote Hirse", wie japanische Soldaten chinesische Bäuerinnen mit einem Maschinengewehr niedermähen.

Mit beinahe anatomischer Detailversessenheit beschreibt er die lebendige Häutung eines Bauern, der auf der Flucht aus einem japanischen Arbeitslager erwischt wird. Der Bauer lässt sich im Dunkeln vom klagenden Schrei eines Maultiers locken, das einst ihm gehörte. "Schwarze Maultiere, murmelte Onkel Luohan, schwarze Maultiere, lasst uns gemeinsam fliehen."

Die Tiere wollen nicht fliehen, sie erkennen Onkel Luohan nicht wieder, denn er ist im Lager geschlagen worden und riecht nun nach getrocknetem Blut und frischen Wunden. "Hast du Angst? Verdammtes Vieh! Was ist aus deinem Stolz geworden? Verdammtes Vieh! Du verkommener, undankbarer, schmarotzender Bastard! Du verlogener, verräterischer Hurensohn!" Onkel Luohan erschlägt seine Maultiere mit einer Hacke - und wird gefasst.

Aber Mo Yans Realität ist nicht nur grausam, sie ist auch voller starker Frauen mit schönen Brüsten und Füßen, und sie ist auf eine konsequente Weise unberechenbar in ihrem Hin und Her zwischen Gewalt und Zärtlichkeit, Glück und Pech, Liebe und Tod.

Das macht seine Bücher so beklemmend romantisch: "Der kühlende Wind der Abenddämmerung streichelte die endlose Jute. Sie schwankte und wogte wie ein schwarzrotes Meer. Jinjü hatte das Gefühl, dass Gao Ma und sie sich in zwei Fische verwandelten, die nicht mehr schwimmen konnten", schreibt er im Roman die "Knoblauchrevolte" über einen blutigen Aufstand von Bauern, die wegen Fehlplanungen der Behörden ihre Knoblauchernte nicht absetzen können. "Jute, Jute, Jute, du hältst ihn auf, du hältst mich auf, du verziehst deinen dunkelgrünen Mund, du zwinkerst mit den schwarzen, schlauen Augen, du kicherst, du streckst deine Beine aus, mit lächelndem Gesicht stellst du uns ein Bein."

Der internationale Durchbruch gelang Mo Yan 1987 mit dem Novellenzyklus "Das rote Kornfeld". Das Buch wurde von Zhang Yimou verfilmt, der Film gewann auf der Berlinale 1988 den Goldenen Bären. Man kann also kaum behaupten, Mo Yan wäre dem interessierten internationalen Publikum unbekannt.

Fünf seiner Romane und ein Erzählband sind bereits ins Deutsche übersetzt worden. Der Nobelpreis wird Mo Yan womöglich einen Schub auf dem internationalen Buchmarkt bescheren, aber vor allem bedeutet er eins: Die achtzehn schwedischen Intellektuellen (die meisten von ihnen selbst Schriftsteller), die über die Verleihung des Nobelpreises entscheiden, glauben nun, dass Weltliteratur auch in einer vor sich hin mutierenden Autokratie entstehen kann.

John Updike, der US-amerikanische Schriftsteller, der bis zu seinem Tod 2009 auch zu den Nobelpreiskandidaten zählte, hielt Mo Yan für einen interessanten Autor mit einer "außerordentlich ehrgeizigen Reichweite". 2005 rezensierte er im New Yorker Mo Yans Roman "Große Brüste und breite Hüften". Das Buch schildert das lange, harte Leben einer unbeugsamen Frau, die im Jahr 1900 auf die Welt kommt und im Alter von sechs Monaten in einem Mehlbottich versteckt wird, während ihre Eltern von deutschen Soldaten massakriert werden. Die deutschen Soldaten sind gekommen, um bei der Niederschlagung des Boxer-Aufstandes zu helfen.

Die Heldin stirbt erst 1993, und die Fülle der leidvollen Erfahrungen, die dazwischen liegen, bewegt John Updike zu einem besonnenen Urteil: Der bleibende Eindruck beim "erschöpften Leser" sei "die vernichtende Erinnerung an die chinesische Erfahrung im vergangenen Jahrhundert."

Epische Beschreibungen des chinesischen Volksleidens stellen eine literarische Aufarbeitung von Chinas jüngster Geschichte dar, die ja politisch kaum aufgearbeitet wird. Deswegen erfüllen Mo Yans Werke, unabhängig von ihrer literarischen Qualität, eine gesellschaftliche Funktion.

Man kann Mo Yan wegen seines magischen Realismus in eine Reihe mit Gabriel García Márquez stellen, wie die Stockholmer Juroren es nun getan haben. Mit der gleichen Logik hätten sie Yu Hua auszeichnen können, einen ebenfalls populären und von den Pekinger Kulturbürokraten favorisierten Autor, der sich an Chinas Geschichte abarbeitet und, was den magischen Realismus betrifft, ein noch fleißigerer Schüler von García Márquez ist.

Man könnte das Werk Mo Yans auch in der Tradition Lin Yutangs sehen (1895 bis 1976), eines ehemals im Westen bekannten und nun vergessenen Autors, über dessen Roman "Moment in Peking" das Magazin Time 1939 schrieb: "Vollgestopft mit Zwischenfällen, aber ohne Plot, zeichnet 'Moment in Peking' die Geschichte dreier wohlhabender chinesischer Mittelklasse-Familien auf, vom Boxer-Aufstand 1900, als die Heldin, die zehnjährige Mulan, von Soldaten entführt wird, bis Silvester 1938, als sie sich der epischen Flucht von 40.000.000 übermütigen Flüchtlingen in Chinas riesiges Landesinnere anschließt."

Im September fragte die Staatszeitung Renmin Ribao Mo Yan, was er vom Nobelpreis halte. Er sagte: "Um diese Jahreszeit bauschen die Medien das Thema hoch. (. . .) Einige Kritiker machen sich über chinesische Autoren lustig und sagen, sie hätten eine Nobelpreis-Angstneurose." Der Journalist folgerte, es sei besser, "dem Nobelpreis rational und ruhig zu begegnen".

© SZ vom 12.10.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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