Literatur & Liebe:Zwischen Ochsen und Euripides

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Sigrid Damm: Sommerregen der Liebe. Goethe und Frau von Stein. Insel Verlag, Berlin 2015. 407 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro. (Foto: N/A)

Sigrid Damm erzählt die Liebesgeschichte zwischen Goethe und Charlotte von Stein neu - fragend, zuhörend und ihre eigene Ratlosigkeit gegenüber dem rätselhaften Stoff nicht verbergend.

Von Gustav Seibt

Als "Krankheit" hat Goethe seine Liebe zu Charlotte von Stein bezeichnet, als "eine Krankheit, die mir kostbarer ist als die vollkommenste Gesundheit und von der ich nie genesen will". Eine ungeheuerliche Diagnose, die in die Nähe der "Krankheit zum Tode" führt, an der Werther zugrunde geht. Goethe hat sich davon losgerissen. Die Nachwelt aber brütet seit fast zweihundert Jahren über den 1700 Briefen, Gedichten, Kurzmitteilungen, die zwischen 1775 und 1786 von ihm an Frau von Stein gingen. Ihre Antworten sind nicht erhalten, nach dem Ende der Beziehung hat Charlotte sie zurückverlangt und verbrannt. Schon diese Quellenlage macht eine Enträtselung des sonderbaren, auf sexuelle Enthaltsamkeit und emotionale Hörigkeit gegründeten Liebespakts unmöglich.

Wie auch immer man ihn deutet - manche machen Goethe zum Gefangenen einer Schneekönigin, andere erklären die Frau zum Opfer eines Seelenblut saugenden Dichters -, die poetische Fruchtbarkeit dieser Beziehung ist unerhört. Goethe richtete Verse von trancehafter Schönheit an sie, und ihr Vorbild dürfte in der Iphigenie wie in der Prinzessin von "Torquato Tasso" zu erkennen sein: Die krankhafte Leidenschaft brachte eine Göttin von gläserner Reinheit hervor. Dazu kommen die vielen Briefe, die ein entfesselt empfindsames Aussprechen von Stimmungen, Augenblicken und Eindrücken in die deutsche Sprache brachten, dessen Modernität bis heute umwirft.

Sigrid Damm, die ihrerseits empfindsame Kennerin der deutschen Klassik, hat eine knappe Auswahl daraus getroffen, die alle anlocken kann, die erst einmal vor tausend Seiten zurückschrecken. Da sehen und hören wir den jungen, immer erregten Dichterstaatsmann und Prinzenerzieher in seinem überfüllten Alltag, immer wieder unterwegs, zu Fuß, zu Pferde, bei jedem Wetter, in Ungemach und Lebensgenuss. In Schmalkaden begutachtet Charlottes Ehemann, der Stallmeister von Stein, Ochsen, der Dichter interessiert sich für Granite, den festen Grund der Schöpfung, deren beweglichster Teil das menschliche Herz ist. Am Tag danach, in Zillbach, muss man auf säumige Prinzen warten, der eigene Herzog probiert unterdessen Flinten und Pistolen aus. "Ich hingegen kriegte meinen Euripides hervor und würzte diese unschmackhaffte Viertelstunde", jenen antiken Tragiker also, der auch die Form für die "Iphigenie" vorgab. Und über allem die "maladie" dieser Liebe.

Im zweiten, längeren Teil erzählt Sigrid Damm die Geschichte noch einmal, fakten- und zitatenreich, nach ihrer Art fragend und zuhörend, Ratlosigkeit nicht verbergend. Diese Ratlosigkeit, die sich absichtsvoll unterscheidet vom zackigen Drama des Dichters Peter Hacks ("Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe") und den komplexen Thesen des Psychoanalytikers K. R. Eissler, macht Damms Buch geeignet für Anfänger, die diese unendlich oft durchgesprochene Geschichte noch nicht kennen. Die große Frage, die diese Liebesgeschichte aufwirft, bewährt ihre poetische Kraft.

Übrigens: Der Titel des Buches, "Sommerregen der Liebe", ist ein Zitat von Goethe. Das, was heute einen mit honigfarbener Linse gedrehten Film des öffentlich-rechtlichen Fernsehen zieren könnte, war einmal ein neuartiger Ausdruck.

© SZ vom 16.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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