Literatur im Nationalsozialismus:Anstand und Erbsenpü

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Hans Falladas "Der eiserne Gustav" erschien 1938 mit einem erzwungenen "Nazi-Schwanz" und 1962 vielfach gekürzt im Aufbau-Verlag. Eine Neuausgabe verspricht die "Originalfassung".

Von Jens Bisky

Wenn Automobile die Straßen verstopfen, werden Kutscher auf neue Weise interessant. Als Statthalter einer entschwindenden Welt gewinnen sie poetischen Reiz. Diesen Effekt macht sich 1928 der Berliner Droschkenkutscher Gustav Hartmann zunutze. Begleitet von der B.Z. am Mittag und allerlei Reklamerummel fuhr er mit seinem Pferd Grasmus von Wannsee nach Paris. Man empfing ihn überall mit Blumen und Jubel, in Dortmund, heißt es, begrüßten ihn 200 000 Menschen. Als er am 4. Juni in Paris eintraf, sich vor dem Eiffelturm und im "Moulin Rouge" fotografieren ließ, war er berühmt, ein Zeitungsstar.

Der Schauspieler Emil Jannings, in den späten Dreißigerjahren auf der Suche nach einer neuen Rolle, verfiel auf den prominenten Droschkenkutscher, und es gelang ihm, Hans Fallada von seiner Idee zu überzeugen. Der Vierundvierzigjährige hatte mit "Kleiner Mann - was nun?" einen kolossalen Bucherfolg gehabt, auch sein gerade erschienener Inflationsroman "Wolf unter Wölfen" verkaufte sich gut. Nach einigen Besprechungen in einer Suite des vornehmen Berliner Hotels Kaiserhof wurde man einig, Falladas Verleger Ernst Rowohlt unterschrieb am 13. November 1937 einen Vertrag mit der Tobis. Der Autor, der rauschhaft schrieb, stürzte sich, Zigarette um Zigarette rauchend, in die Arbeit, Ende November hatte er 210 Druckseiten zu Papier gebracht. Einen "kleinen Nervenknax" Anfang Dezember überwand er rasch, noch vor Weihnachten waren 450 Druckseiten niedergeschrieben.

Wenn heute vom "eisernen Gustav" die Rede ist, haben viele Heinz Rühmann vor Augen, der den Droschkenkutscher aus Wannsee 1958 spielte. Doch der rührselige Film hat mit Hans Falladas Roman nichts zu tun, in dem die Frankreichreise ohnehin nur geringen Raum einnimmt. Das achte Kapitel - "Fahrt nach Paris" - umfasst in der 738 Seiten umfassenden Erstausgabe von 1938 knapp siebzig Seiten und hinterlässt einen sehr viel geringeren Eindruck als das vorhergehende Geschehen. Fallada erzählt vom Kutscher Gustav Hackendahl und seinen fünf Kindern, von den Schicksalen einer Berliner Familie zwischen 1914 und 1933.

Vor allem deswegen interessierte sich Joseph Goebbels für das Projekt. Am Neujahrstag 1938 schrieb Emil Jannings einen Brief an seinen Autor Fallada. Er berichtete ihm von einem Besuch auf dem Obersalzberg in Berchtesgaden. Hitler sei begeistert "von der Idee unseres deutschen Schicksalsfilms ... Auch Minister Dr. Goebbels wartet mit Spannung auf Ihr Buch."

Am 30. Januar 1938 vollendete Hans Fallada das erste Manuskript seines Romans. Er wollte ihn - vertragswidrig - mit der Paris-Fahrt enden lassen. Das hätte es ihm erspart, die letzten Jahre der Weimarer Republik darzustellen und sich irgendwie zur nationalsozialistischen Bewegung zu verhalten. Ende Februar war das Typoskript fertig, die Rowohlt-Lektoren Franz Hessel und Friedo Lampe empfahlen Kürzungen und Milderung einiger besonders krasser Szenen. Fallada nahm das Typoskript wieder vor, überarbeitete es, Anfang Juni ging es in den Druck.

Doch Goebbels war nicht zufrieden und wies den Schauspieler Jannings zurecht. Unter dem 23. Juli 1938 notierte er im Tagebuch: "Aussprache mit Jannings. Ich halte ihm alle Schwächen seines Filmmanuskripts vor. Er ist zwar widerborstig, fasst sich dann doch. Das Ende wird gänzlich umgearbeitet und positiver gestaltet. Ich diktiere selbst einen neuen Schluss. Der sitzt nun aber."

Hans Fallada sträubte sich, gab dann aber nach und schrieb einen neuen Schluss. Gut 250 Druckseiten erhielt Rowohlt Anfang September. Wenige Wochen nach den Pogromen des 9. November 1938 erschien die Buchausgabe. Der Sympathieträger des Romans, Heinz, der Sohn des Kutschers, findet darin zur NSDAP, und der alte Hackendahl steht aus Anstand einigen Nazis gegen feige Angreifer bei. "Also denn: mit euch!", sagt er den Nationalsozialisten.

Der "Schicksalsfilm" ist nie gedreht worden, aber Falladas Roman blieb präsent, jedoch ohne "Nazi-Schwanz", wie der Autor sein neues Ende nannte. Es fehlte in einer zu Tode lektorierten Neuausgabe, die in den Fünfzigern in der Bundesrepublik erschien. Es fehlte auch in der sorgsam lektorierten Ausgabe, die Günter Caspar für den Ost-Berliner Aufbau-Verlag erarbeitete, wo sie 1962 erschien. In dieser Gestalt kennt man Falladas Roman seither. Aber diese Fassung enthält "politisch motivierte Eingriffe", die "in ihrer Gesamtwirkung die Glaubwürdigkeit, Komplexität und erzählerische Qualität des Werkes erheblich beschneiden". Das behauptet die Fallada-Biografin und Herausgeberin Jenny Williams. Sie hat für ihre Neuausgabe den Romantext neu erstellt. Dass der Verlag dafür mit "erstmals in der Originalfassung" wirbt, ist freilich eine ärgerlich vollmundige Behauptung. Philologisch ehrlich wäre es, zuzugeben, dass wir die "Originalfassung" nicht kennen, da weder Manuskript noch Typoskript überliefert sind. Daher war Jenny Williams, wie sie zugibt, "auf Rückschlüsse, sekundäre Hinweise und Analogien angewiesen".

Hans Fallada: Der eiserne Gustav. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jenny Williams. Aufbau Verlag, Berlin 2019. 831 Seiten, 26 Euro. (Foto: N/A)

Erhalten hat sich das Deckblatt der neuen Schlussseiten, auf dem Fallada schrieb: "Der Romantext bleibt unverändert bis: Schreibmaschinen-Manuskript Seite 815, Fahen 306, Unterkapitel 15 ausschliesslich". Dennoch hatte Günter Caspar auch in den früheren Kapiteln Passagen getilgt, die ihm allzu sehr der NS-Propaganda gegen die Weimarer Republik zu entsprechen schienen. Es ist richtig, diese Auslassungen rückgängig zu machen.

Allerdings übersieht Jenny Williams, wie anschlussfähig Falladas Bild des Niedergangs in Revolution und Republik, seine durchgehend negative Schilderung der Sozialdemokraten für die NS-Propaganda war. Der "Nazi-Schwanz" wurde dem Autor aufgezwungen, aber die Konversionsgeschichte, die er erzählt, fügt sich nahezu bruchlos in das Romangeschehen. Hans Fallada war ein Erfolgsautor im Dritten Reich, in dessen letzten Jahren arbeitete er an einem von Goebbels gewünschten, antisemitischen Werk über den Barmat-Kutisker-Skandal, der 1924 die junge Demokratie erschüttert hatte. "Der eiserne Gustav" erschien 1940 in London verständlicherweise ohne den Nazi-Schluss: "Iron Gustav". Was aber spricht 2019 dagegen, die "neuen Schlussseiten", die als einzige überliefert sind, und den "Nazi-Schwanz" der Buchausgabe von 1938 sowie andere Text-Zeugen in einem dokumentarischen Anfang zu veröffentlichen? Die Absicht, eine von den Entstehungsbedingungen als Propagandageschichte absehende "Originalfassung" zu erstellen, ihr vermutete Intentionen des Autors zugrunde zu legen, wirkt philologisch naiv und erspart den Lesern historische Reflexion.

Und doch ist man froh, dass der Roman mit einem informativen Nachwort neu ediert wurde. Es ist ein Kolportageroman, in dem politische Meinungen, Gestank, Erbsenpü, krumme Geschäfte und hohe Ideale zusammenkommen, ein Zeitpanorama voller interessanter Figuren und Szenen, die man so schnell nicht wieder vergisst.

Gustav Hackendahl ist ein Mann des wilhelminischen Kaiserreichs, der seine Familie herumkommandiert, wie er es beim Militär gelernt hat. Seinen Kindern versucht er jene "Grundsätze einzuimpfen, durch die er, wie er meinte, zum Erfolg gekommen war: Fleiß, Pflichtgefühl, unbedingte Rechtlichkeit, Unterordnung unter den Willen eines Höheren - heiße er nun Gott, Kaiser oder Gesetz". Er scheitert damit, noch bevor mit Kriegsbeginn die Welt untergeht, in der Pflichterfüllung noch geholfen hat. Sein Sohn Otto hat heimlich ein Kind mit der buckligen Schneiderin Tutti, einer der stärksten Frauengestalten in Falladas Werk. Sohn Erich liebt das gute Leben, verlottert, wird Spekulant. Die Tochter Eva geht einem Ganoven und Zuhälter ins Garn, der sie zurichtet und versklavt. Eine andere Tochter macht als Krankenschwester Karriere und will, grenzenlos kaltherzig, von den Eltern nichts mehr wissen. Und dann ist da der Sohn Heinz, der in den Wirren seinen Weg sucht, arbeitslos wird, keinen Ausweg sieht und vor die Hunde zu gehen droht. Im erzwungenen Schluss findet er Selbstachtung, Kameradschaft und Anstand unter Berliner Nationalsozialisten.

Jenny Williams lässt ihre Fassung des Romans mit dem Tod der Mutter enden. Ganz am Schluss sitzt Hackendahl im Stall und denkt an seinen Schimmel, der 1914 ein ungewolltes Wettrennen gegen ein Automobil verlor und danach einen Knacks weghatte. "Auch Hackendahl hat ein Rennen gemacht, er hat ein Lebensrennen gemacht über eine weite Strecke - und nun döst er wie sein niedergebrochener Schimmel im Stall, einen verlorenen Strohhalm im Munde!" Ein echter Fallada-Schluss, aber ob der Roman so enden sollte, können wir nicht wissen.

Für das Honorar von der Tobis hat sich Hans Fallada einen Ford V8 Tudor gekauft, ein Cabriolet.

Hans Fallada: Der eiserne Gustav. Roman. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jenny Williams. Aufbau-Verlag, Berlin 2019. 831 S., 26 Euro.

© SZ vom 26.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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