Literatur als Zeitenkunde:Bald wird's wieder Tag

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Weltgewandter kann die Provinz nicht werden: Die Kalendergeschichten und Gedichte, Predigten und Briefe von Johann Peter Hebel laden in einer opulenten, erhellend kommentierten Leseausgabe zum "Unverhofften Wiedersehen" ein.

Von Thomas Steinfeld

Die Bergwerke von Falun liegen in Mittelschweden, weit entfernt von Karlsruhe. Das war zumal im späten 18. Jahrhundert so, als eine Reise von dort nach Basel mit der Kutsche vier Tage beanspruchte und kaum jemand im Badischen wusste, wie es im Norden tatsächlich aussieht. Dennoch wurde eine kleine Erzählung, die von einem Ereignis in diesen Bergwerken berichtet, aber in Karlsruhe aufgeschrieben wurde, zu einer der erfolgreichsten Geschichten der deutschen Literatur. In der Fassung von Johann Peter Hebel, dem alemannischen Dichter und Theologen, umfasst sie nicht einmal drei Druckseiten. In einem lakonischen, man möchte beinahe sagen: für jene Zeit nachrichtlichen Ton erzählt er darin von einem jungen Bergmann, der kurz vor seiner Hochzeit noch einmal in die Grube fährt und darin ums Leben kommt.

Fünfzig Jahre später wird der Leichnam geborgen, durch vitriolhaltiges Wasser vollkommen konserviert. Doch keiner erkennt den Toten, seine Verwandten sind längst gestorben. Da löst sich eine alte Frau aus der Menge und sinkt auf dem Leichnam nieder: Es ist die Verlobte, die allein geblieben war und nun glücklich darüber ist, ihren Bräutigam vor ihrem Tod noch einmal wiederzusehen. Bei seinem Begräbnis erscheint sie im Hochzeitskleid. "Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehn im kühlen Hochzeitsbett", lauten die letzten Sätze der Geschichte, "und lass dir die Zeit nicht lang werden. Ich habe nur noch ein wenig zu tun und komme bald, und bald wird's wieder Tag."

Die Wirkung dieser zuerst im Jahr 1811 veröffentlichten Erzählung entsteht auf der einen Seite durch stilistische Verknappung, auf der anderen durch scharfe ideelle Kontraste. Die Jahre gehen in Mittelschweden in großer Gleichmäßigkeit dahin, während sich die große Welt in Aufruhr befindet: "Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugall durch ein Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg gieng vorüber ...", heißt es im Original. Die alte Frau, um die Erfüllung ihrer Liebe und in gewisser Weise auch um ihr Leben gebracht, ist glücklich, ihren Verlobten noch einmal zu sehen, und sei es als Toten. Pfarrer Hebel kann auf die Predigt verzichten, indem er die alte Frau schlicht auf einen bald anbrechenden "Tag" hoffen lässt. Und vor allem: Das Glück der Braut liegt darin, dass sie nicht nur den Bräutigam noch einmal zu sehen bekommt, sondern dass sie ihn jung sieht, so dass die Zeit auch für sie stehen geblieben ist.

"Jetzt schwenken wir den Hut, / der Wein, der war so gut ..."

Mehrere hundert solcher Geschichten hat Hebel geschrieben, ursprünglich bestimmt für die Veröffentlichung im lutherisch-badischen Landkalender, den herauszugeben zu den Dienstpflichten des Theologen und Gymnasiallehrers gehörte. Nicht alle Geschichten entfalten den literarischen Zauber und die moralische Wucht des "Unverhofften Wiedersehens". Manche bestehen aus bloßen Nachrichten, die aus der weiten Welt ins Badische drangen, andere sind kaum mehr als Appelle, Ermahnungen, gute Ratschläge, Elemente der Volksbildung. Die meisten Geschichten sind von kalkulierter Schlichtheit (aber nicht alle sind schlicht). Und sie sind, obgleich tief in der Region verwurzelt und von vertrauten Gestalten belebt, alles andere als erbaulich. Ein Aufklärer ist in diesen Geschichten am Werk, doch einer von der bodenständigen, konservativen Sorte.

Eine Gesamtausgabe der Werke Johann Peter Hebels erschien im Jahr 1834, eine umfangreiche Auswahl im Jahr 1961. Seitdem ist das Œuvre nur noch in Teilen erhältlich. Es sind diverse Ausgaben der Kalendergeschichten im Handel, doch ist nur eine Ausgabe der "Allemannischen Gedichte" lieferbar, über einen Verlag, der sich auf die Reproduktion gemeinfreier Werke spezialisiert hat. Eine kritische Ausgabe ist in Arbeit, wobei ihr zur Vollendung allerdings noch mehrere Bände fehlen. Um so mehr überrascht es, dass nun eine "Lese- und Studienausgabe" erscheint, in sechs leinengebundenen Bänden und für wenig Geld. Die neue Edition enthält alles, was man kennen sollte, und darüber hinaus noch sehr viel mehr: die Geschichten, die Gedichte (die meisten davon in alemannischer Mundart), die Predigten, die Briefe und so aparte Dinge wie das "Stilbuch", bestehend aus Texten, die Hebel für seine Schüler verfasste, die sie ins Lateinische zu übertragen hatten.

Wer hier den Tod fand, konnte mit den Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel in die Ewigkeit eingehen. Pehr Hilleström: "Nacht in den Kupferbergwerken von Falun" (1781) (Foto: mauritius images)

Sogar den Exzerpten ist nahezu ein ganzer Band gewidmet, was weniger apart ist, als es klingt, weil sich daraus die Arbeitsweise Hebels erschließen lässt. Was aus diesem Reichtum an Materialien hervorgeht, ist das Bild eines längst vergangenen, aber als Wunsch hier und da wohl immer noch vorhandenen Ineinanders von Bürgerlichkeit und literarischer Intelligenz, dessen Voraussetzung eine kleine, nicht nur geografisch, sondern auch sozial und kulturell fest umrissene Region ist. In vielen der Briefe entfaltet sich darüber hinaus ein kluger Witz, der zugleich von Respekt für den Adressaten wie von Vertrautheit kündet.

Ermessen lässt sich das Zusammenwirken von Regionalität, Bürgerlichkeit und Intelligenz an der Bedeutung, die dem Wirtshaus in vielen der Geschichten sowie in einigen Gedichten zukommt: "Jetzt schwenken wir den Hut, / der Wein, der war so gut ...". Die Dorfschenke wäre eine eigene, große Abhandlung wert, denn sie steht für die Gesellschaft, in einem ebenso beschränkten wie tiefen Sinn. Die eigentlichen Adressaten der Geschichten sind die Bauern und Handwerker in den Dörfern und kleinen Städten Südwestdeutschlands, die Menschen, die immer schon dort waren und die kaum etwas anderes kennen als ihre kleine Welt.

Im Wirtshaus aber treffen sie auf eine ungeregelte Außenwelt. Sie tritt auf in Gestalt von Dieben, Räubern, Falschmünzern und Soldaten, Händlern oder reisenden Adligen. Und diese Außenwelt erscheint um so häufiger, als die Gegenden, über die Hebel schreibt, nie weit vom Rhein entfernt liegen. Den großen Strom entlang ziehen die Figuren, die überhaupt erst für die Geschichten sorgen, die danach zu erzählen sind - falls die Erzählstoffe nicht, wie das "Unverhoffte Wiedersehen", aus einem literarischen Repertoire stammen, das durch Zeitschriften und Bücher den Weg nach Karlsruhe fand. So, wie die Bauern die Diebe und Handelsreisenden brauchten, um zu ihren Geschichten zu kommen, so bedurfte die Heimatdichtung der Zirkulation der gelehrten und höfischen Literatur, um überhaupt entstehen zu können.

Die Heimat allerdings, wie Hebel sie schildert, ist eine von Grund auf prekäre Angelegenheit: Ein Großteil der Geschichten wie der Gedichte handelt von Einbrüchen in eine kleine Welt, von Verstörungen, von plötzlichen Verschiebungen der sozialen und ökonomischen Gewichte. Die Menschen sind ihnen ausgeliefert, zumal dann, wenn es sich um Gewalttaten handelt, die sie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Der Grund für diese Verstörungen ist leicht zu ermitteln: Die spätmittelalterliche Ordnung, die über Jahrhunderte Bestand gehabt haben mag, wird aufgebrochen. Das Heilige Römische Reich verschwindet. Mit ihm geht eine Vielzahl kleiner deutscher Staaten dahin, die napoleonischen Kriege ziehen eine erzwungene Modernisierung nach sich, während Baden zu einem großen europäischen Staat wird. Vor diesem Hintergrund muss man die Geschichte von dem jungen Mann lesen, der nach Paris geht, um sich zu einem Mann von Welt ausbilden zu lassen, während daheim nicht nur Haus und Hof, sondern auch die Familie untergeht. Nie ist Hebels Heimat eindeutig vermessenes Gelände. Stets ist sie in Bewegung, und mehr noch: Stets ist sie auch Imagination, und keiner der Beteiligten macht sich Illusionen über ihren halb fiktiven Charakter. Diese Aufgeklärtheit sich selbst gegenüber gilt auch für das Verhältnis zu Frankreich, oder genauer: zum Elsass, das von allem Ressentiment frei zu sein scheint.

Nie ist Hebels Heimat eindeutig vermessenes Gelände

Die Kalendergeschichten sind in einer klaren, scheinbar anspruchslosen Sprache verfasst, die zu ihrer Zeit neu war und noch lange nachwirkte, bis hin zu Robert Walser und Franz Kafka, der eine besondere Bewunderung für diese Art der Dichtung hegte. Im Werk stehen den Geschichten die "Allemannischen Gedichte" gegenüber, die, ausweislich der "Vorrede", "für Freunde ländlicher Natur und Sitten" geschrieben sein sollen. Diese Freunde, so ist zu vermuten, sind indessen weniger die Leute auf dem Land, an die sich die Geschichten richten, sondern Gebildete, die, wiederum Idealen der Aufklärung gemäß, ein Interesse am Volkstümlichen und vermeintlich Natürlichen entwickelt hatten.

Ihnen erschien im Dialekt eine Vorstellung von Gemeinschaft und regionaler Bindung, wider das Normierende der Hochsprache, aber doch auf der Höhe einer humanistischen Bildung, mit deren Hilfe sich die Hügel Südbadens zuweilen in Landschaften der griechischen Antike verwanden lassen. Hebels poetische Mundart zeichnet sich dadurch aus, dass sie als universale, in sich völlig ausgebildete Sprache daherkommt. Sie scheint nichts nachzuahmen, der Jargon ist ihr fern, und sie unterscheidet sich etwa von bayrischen Speisekarten auch dadurch, dass sie keine reine Lautumschrift bietet.

Hebels Alemannisch erscheint als ein Art von Gemeineigentum, in dem es in freien Versen genug Raum und Form für jeden Gedanken gibt, der sich überhaupt fassen lässt, unter den Voraussetzungen einer eng umrissenen Region (die nicht Karlsruhe ist, wo Hebel den allergrößten Teil seines erwachsenen Lebens verbrachte, sondern das südbadische Wiesental, in dem er aufgewachsen war). Weltgewandter kann die Provinz nicht werden, woran sich zuletzt die Frage anschließt, ob es überhaupt etwas Urbaneres geben kann als eine gründlich gebildete Provinz. Von Hebel aus betrachtet, wäre diese Frage mit einem entschlossenen "Nein" zu beantworten.

Johann Peter Hebel: Gesammelte Werke. Kommentierte Lese- und Studienausgabe in sechs Bänden. Herausgegeben von Jan Knopf, Franz Littmann, Hansgeorg Schmidt-Bergmann und Esther Stern. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 3704 S., 59 Euro.

© SZ vom 24.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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