Literarischer Triathlon:Leben 'n' Werk

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Drei Personen suchen einen Autor: Thomas Glavinic bespiegelt in seinem neuen Roman "Der Jonas-Komplex" sein multiples Ego - ein unendlicher Lesespaß mit kleinen Fehlern.

Von Alex Rühle

Das Leben. So kurz. So einmalig. Warum nur kann man nicht mehrere Biografien durchprobieren? Andererseits - dieser eine, der einen morgens aus dem Spiegel anstiert, wer ist das überhaupt? "Wer wir sind, wissen wir nicht. Beim letzten Durchzählen kam ich auf mindestens drei Personen, die jeder von uns ist. Erstens die, die er ist, zweitens die, die er zu sein glaubt, und drittens die, für die ihn die anderen halten sollen."

So springt dieser Erzähler in seinen Text, ein Wiener Autor mit Koks- und Alkoholproblemen, mit viel Humor, einer starken Libido und einem schillernden Freundeskreis. Beim Lesen merkt man schnell: Den kenn ich doch. Das ist doch er, also "Ich", dieses urviechartige Autorenwrack aus "Das bin doch ich", der lustigsten, wildesten Literaturbetriebsposse in deutscher Sprache, geschrieben von einem Mann, der stark an Thomas Glavinic erinnert, aber gleichzeitig so dermaßen kaputt ist, dass ihm nie das brillante Buch gelungen wäre, mit dem Glavinic 2007 den ganzen Betrieb hochnahm.

Jetzt ist er also wieder da, bekommt immer noch SMS von Daniel Kehlmann, ist immer noch befreundet mit einem Anwalt namens Werner, der die Hells Angels vertritt, und seine Agentin ist immer noch Karin Graf. Der schickt er einmal nachts eine SMS, die eigentlich an eine andere Karin gehen sollte: "Willst du mir den Schwanz rasieren, oder soll ich vorher selbst?"

Das klingt nach Literatenliteratur und Selbstbezüglichkeit in der zweiten Potenz. Ein Autor schreibt über einen Autor, über den er schon mal geschrieben hat. Aber bevor man ernsthaft ins Zweifeln kommt, hat man schon sehr oft gelacht. Außerdem kommt schnell der erste Schwenk nach Tokio. Zu Jonas, von dem in einer ganz anderen Tonlage und in der dritten Person erzählt wird.

Geht stets volles Risiko - und dabei manchmal ein bisschen zu weit: Thomas Glavinic. (Foto: Sebastian Reich/dpa)

Dieser Jonas ist Glavinic-Lesern ebenfalls gut bekannt: Er ist die Hauptfigur aus Glavinics Roman "Das größere Wunder" (2013), ein Milliardär, der dank seines unbegrenzten Vermögens durch nichts in seinem enormen Freiheits- und Welterkundungsdrang aufgehalten werden kann. Gleichzeitig ist er ein Romantiker, der an die große Liebe glaubt, den einen Menschen, der irgendwo auf der Welt auf einen wartet. Mittlerweile hat er diesen Menschen (wieder-)gefunden, er lebt mit seiner Marie, einer Gehirnchirurgin, in Tokio zusammen. Und er ist weiterhin auf der Jagd nach dem intensiven Leben. Allerdings: "Wenn man alles kann und alles darf, hört die Freiheit auf und man wird Gefangener seiner Möglichkeiten." Also lässt sich Jonas von seinem Anwalt immer wieder am Ende der Welt aussetzen, um alleine zurück in die Zivilisation zu finden und auf diesem Weg in Zustände der gesteigerten Lebensintensität.

Und dann ist da noch dieser 13-jährige Junge. Der lebt in der Weststeiermark und ist so einsam, wie man nur einsam sein kann. Er haust bei einer alkoholischen Nymphomanin. Es gibt einen fernen jugoslawischen Vater. Es gibt die Liebe zu seiner Großmutter und deren "selbstmitleidfreier Wehmut". Und es gibt in diesem blitzgescheiten Jungen, der sich die Zeit mit Schachspielen und Büchern vertreibt, trotz aller Einsamkeit eine erstaunliche Resilienzkraft, eine seelische Robustheit, die nichts Grobes hat. Der Junge verehrt Bobby Fischer, das Schachgenie. Sein Vorbild aber ist Emanuel Lasker, das Chamäleon, das jedes Mal anders spielte. "So möchte ich auch werden. Einer, der überall zu Hause ist und nirgends. Von dem man nicht weiß, was und wie er spielen wird, weil er zu allem in der Lage ist. Bei dem es um Ideen geht, um das, was ihm in der Sekunde einfällt, in der es drauf ankommt. Mich fasziniert dieses blinde Finden, dieser Tanz am Abgrund."

Die drei Biografien, die hier parallel erzählt werden, eint dieses lebensästhetische Moment, alle drei sind sie Spieler am Abgrund, überall zu Hause und nirgends. Alle drei eint das grenzenlose Erstaunen, hier und jetzt da zu sein. Wer bin ich? Und bin ich überhaupt wirklich da? Der Wiener Autor ruft während einer seiner Panikattacken seinen Freund, den Anwalt an: ",Kannst du mir mit Sicherheit sagen, dass ich nicht tot bin?', frage ich. ,Du bist ganz sicher tot, so wie du aussiehst', sagt er." Mit solch schnellem, rauem Humor pulverisiert Glavinic immer wieder allen Existenzkitsch, noch bevor der überhaupt angesichts solch großer Fragen Zeit hat, unheilvoll aufzuwabern.

Die drei sind auch sonst wesensverwandt, was bei dem Jungen und dem Autor wenig verwunderlich ist, sind sie doch ein und dieselbe Person, einmal im Jahr 1985, einmal heute. Der Junge weiß, dass es Geister oder Gespenster gibt. Der Autor schaut gerne Ufo-Dokumentationen. Jonas frotzelt sich am liebsten mit Werner, seinem verstorbenen Jugendfreund, quer durch die verschiedenen Seins- oder Nichtseinszustände an, als stünden sie gemeinsam im Anzengruber am Tresen. Das Anzengruber ist ein Wiener Lokal, das öfters in Porträts über Glavinic vorkommt, und natürlich auch im Roman, weil ja Leben'n'Werk gleich Rock'n'Roll, also torkelt der Erzähler hier regelmäßig vorbei.

Einmal fürchtet er sich nach einer Anzengrubernacht vor "erektiler Dysfunktion", er hat da Besuch von einer seiner vielen Frauen, einer Tierärztin, die zuvor ein krankes Frettchen eingeschläfert hat. ",Du hast das Frettchen eingeschläfert?' - ,Ja.' - ,Obwohl noch etwas zu machen gewesen wäre?' - Sie nickt verlegen. ,Damit du rechtzeitig hier bist?' ,Du hast gemeint, du hast nur eine halbe Stunde Zeit.' ,Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll.'"

Die Frettchensexpassage, die hätte der große Thomas lieber streichen sollen

Das geht einem als Leser an der Stelle genauso. Wobei - eigentlich weiß man schon, was man sagen soll, nämlich dass der Verlag diesem anarchischen Kraftprotz mal einen Lektor zur Seite stellen müsste, aber eben einen richtigen, einen mit dicken Eiern, nicht diese Strickjäckchenbubis. Einen, der ihm sagt, Thomas, du bist gewaltig, groß und herrlich, dein Manuskript wird ein unendlicher Spaß, du bist der Lasker der deutschen Literatur, zu allem in der Lage. Aber die devote Frettchensexpassage, die streichen wir genauso raus wie Jonas' Aussetzung in einer 2000 Meter hohen Felswand in Patagonien und die elfte Eloge an die Lebensglut und das Bejahen des Seins.

Die "erektile Dysfunktion" teilt der Erzähler mit Peter Handke. Wobei Glavinics Erzähler am Ende gar keine hat, sondern weiterhin Sex vom Feinsten und Unfeinsten. Diesem Handke aber, dem muss man eine "gewaltige erzählerische erektile Dysfunktion attestieren". Hat Glavinic eigenhändig gemacht. Im Spiegel. Da watschte er kürzlich die deutsche Literatur ab, "dünne Bücher über Bleistiftspitzen und die minutiöse Schilderung der Abenteuer einer Fliege an einer Glasscheibe. Das konnte Handke: beschreiben. Aber Literatur ist Erzählen." Im "Jonas-Komplex" schimpft er über "Teflonprosa, gefällige Geschichten kluger, kühler Menschen, die nie ein Risiko eingehen würden."

Er selbst geht volles erzählerisches Risiko. Liebe, ja! Sex unbedingt. Das alles hat eine herrliche, fast schon muskulöse Kraft und Schönheit. Nur manchmal wirkt es plötzlich wie Bodybuilding. Und solches Posen hat ein Zehnkämpfer eigentlich nicht nötig.

© SZ vom 19.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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