In der öffentlichen Wahrnehmung der Fortpflanzungsmedizin gibt es eine historische Zäsur. Nachdem Louise Brown, das erste durch künstliche Befruchtung gezeugte Kind, 1978 zur Welt kam, wurden erbitterte Debatten über die Legitimität des Verfahrens geführt. Die beherrschende Frage lautete, welche Gefahren dieser Akt für das Kind, die Beziehung der Eltern und das Menschenbild einer Gesellschaft heraufbeschwöre. Doch diese Sorge um den Kern des Humanen hat sich spätestens im Lauf der Neunzigerjahre weitgehend aufgelöst. Seither spielt der Aspekt der Künstlichkeit im Umgang mit den Reproduktionstechnologien kaum noch eine Rolle. An seine Stelle ist ein neues Leitmotiv getreten, das lange untergeordnet war: die individuelle Last der Unfruchtbarkeit. Aus dem gefürchteten Retortenbaby ist das herbeigesehnte Wunschkind infertiler Paare geworden.
Sibylle Lewitscharoffs Tirade gegen die Reproduktionsmedizin, die sie vergangenen Sonntag im Dresdner Staatsschauspiel vorbrachte, erstaunt also zunächst durch ihre Unzeitgemäßheit. Die Vokabeln des "Abscheus" und "Horrors", die sie für die In-vitro-Fertilisation und die Samenspende oder für Lebensmodelle wie die "Regenbogenfamilien" mit gleichgeschlechtlichen Elternpaaren übrig hat, sind aus der Frühzeit der künstlichen Befruchtung gut bekannt, genauso wie ihre reflexhafte Erwähnung von "Frau Doktor und Herrn Doktor Frankenstein, den weithin geschätzten Reproduktionsmedizinern". Lewitscharoff gesteht, "dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen".
Wuchernde, "unreine" Familien
Das Menschenbild der Schriftstellerin ist unmissverständlich: hier die gesunde Normalität der durch sexuelle Vereinigung von Mann und Frau hervorgehenden Familie, dort die pathologischen, verabscheuungswürdigen Techniken der künstlichen Zeugung und der Einbeziehung von Keimzellen Dritter bei der Entstehung eines Kindes. Die Natur des Menschen und der Familie sei durch diese "widerwärtigen" Verfahren bedroht, so Lewitscharoff in ihrer Rede, auf die der Dresdner Chefdramaturg, Robert Koall, nun mit einem offenen Brief geantwortet hat.
Wer sich in den vergangenen Jahren mit den sozialen Effekten der Reproduktionstechnologien beschäftigt hat, gewinnt allerdings genau den entgegengesetzten Eindruck. Anfang des 21. Jahrhunderts sind es gerade die wuchernden, "unreinen", durch Unterstützung von Dritten und Vierten entstandenen Familien, die ein seit Jahrzehnten brüchig gewordenes, symbolisch ausgezehrtes Lebensmodell mit neuer Repräsentationskraft versorgt haben. Eine auffällige historische Überschneidung veranschaulicht diese Beobachtung: Denn die entscheidenden Durchbrüche in der Geschichte der Reproduktionsmedizin fallen genau in jenes Jahrzehnt, in dem das traditionelle Konzept der Familie infolge der Umbrüche von 1968 in seine tiefste Krise geraten ist. Die Inflation der Scheidungen, der Rückgang der Kinderzahl, der grundsätzliche Überdruss an bürgerlichen Existenzweisen: In den Siebzigerjahren zerfasert eine Lebensform, die lange Zeit als maßgebliches soziales Modell, als vielbeschworene "Keimzelle der Gesellschaft" gedient hatte.
Die neuen Optionen, durch künstliche Befruchtung oder die Hinzunahme fremder Keimzellen Kinder zu zeugen und Familien zu gründen, fallen also genau in diese Phase hoher sozialer Labilität. Was seither geschieht, die reproduktionsmedizinisch hergestellte Elternschaft von Menschen, die als unfruchtbar galten, später auch von älteren Frauen, Alleinstehenden und gleichgeschlechtlichen Paaren, mag zwar Sibylle Lewitscharoffs politisch oder religiös überlieferte Vorstellungen des Gebildes "Familie" verletzen. In erster Linie eröffnet die Entwicklung aber einem Personenkreis Zugang zu diesem Lebensmodell, der zuvor aus gesundheitlichen oder biologischen Gründen ausgeschlossen war. Ein Kind zu bekommen ist in diesen Fällen keine Selbstverständlichkeit mehr, kein zufälliger oder zwangsläufiger Effekt sexueller Aktivität (auch kein Ergebnis "ehelicher Pflicht"), sondern das Ziel eines langgehegten Wunsches.
Es ist konsequent, dass die Anklage der Schriftstellerin schließlich in der Zeit des Nationalsozialismus mündet. "Mit Verlaub", sagt sie, "angesichts dieser Entwicklungen kommen mir die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden, blauäugigen SS-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor. Ich übertreibe, das ist klar, ich übertreibe." Wie so oft in dieser irritierenden Rede übertönt der weltanschauliche Furor die tatsächlichen Gegebenheiten.
Denn die künstliche Befruchtung, daran lassen die historischen Dokumente keinen Zweifel, wurde von den Nationalsozialisten schroff abgelehnt. Dieser Befund ist zwar überraschend, wenn man bedenkt, dass "Rassenhygiene" und "negative Eugenik" in Form von Zwangssterilisationen oder der "Vernichtung unwerten Lebens" die wissenschaftliche Legitimation der NS-Exzesse bildeten. Doch die "positive Eugenik" der Samenspenden hatte in dieser Ideologie, die ohnehin als unberechenbares Konglomerat von Archaik und Hochmoderne, Biederkeit und Ausschweifung erscheint, keinen Platz.
Goebbels schreibt in seinem Tagebuch am 9. 11.43 über die "künstliche Zeugungshilfe": "Ich halte dieses Verfahren für gänzlich undurchführbar. Das fehlte uns noch, dass ausgerechnet jetzt ein so kitzliges Thema angeschnitten würde." Und Ernst Grawitz, "Reichsarzt SS", schreibt in einer "grundsätzlichen Stellungnahme" zur Frage der Samenspende beim Menschen im Jahr 1940: "Die künstliche Befruchtung lehne ich als Nationalsozialist und deutscher Arzt schärfstens ab. Wer wagt zu behaupten, daß die körperliche Vereinigung von Mann und Weib völlig ohne Einfluß auf die Gestaltung des zukünftigen Geschöpfes bleibt. Je länger ich über die hier angerührten Fragen nachdenke, umso mehr schüttelt mich das Entsetzen vor diesem wahrhaft verbrecherischen Eingriff in ein heiliges, nur der Natur und ihrem Wirken vorbehaltenes Handeln."
Es gehört zum Verhängnisvollen solcher Polemiken, dass ihre Verfasser oft nicht wissen, in welchen historischen Allianzen sie sich bewegen.