Kunststadt Minsk:Hauptsache ohne Phallus

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In Minsk entwickelt sich um die "Y-Galerie" eine lebendige Kunstszene. Trotz staatlicher Kontrollen trauen sich Künstler an provokante Themen, manche kommen extra aus dem Ausland zurück.

Von Frank Nienhuysen

In Berlin wäre das Viertel nicht weiter aufregend, in Minsk dagegen bricht es mit der herrschenden Ästhetik altsowjetischer Akkuratesse. Die Schornsteine auf den Fabrikgebäuden sind bunt bemalt, Fantasiefiguren zieren die industriellen Fassaden, tränenreiche Gesichter, ineinander verschlungene Tiere, ein gemütlicher Kater ruht zu Füßen der gewaltigen Mähne einer jungen, halbentblößten Frau, und das riesige Yin-Yang-Symbol lappt von einem Backsteingebäude auf das Nachbargemäuer über. Die Oktober-Straße in der weißrussischen Hauptstadt ist zu einem urbanen Kleinod geworden. Hamburger-Bars, hippe Cafés, Clubs und pfiffige Straßenbuden garnieren nicht nur die wenigen verbliebenen Fabriken - darunter eine für Wodka und eine für Hefe -, sondern auch einen kleinen kreativen Kunstraum.

"Es ist ein cooler Hub, man spürt hier die Energie", sagt Alina Bliumis. Die weißrussische Künstlerin hat das Land 1993 verlassen und ist nach New York gezogen, nachdem ihre Aufritte kritisiert worden waren. Jetzt ist sie mit einer Ausstellung in ihre Heimat zurückgekommen: in die Galerie "Y", auf deren "Y" eigentlich oben noch ein kleines halbrundes Zeichen aufliegt, das es zu einem Buchstaben werden lässt, den es nur in Weißrussland gibt. Die Y-Galerie versorgt in einer ehemaligen Lagerhalle die Minsker mit zeitgenössischer Kunst.

Bliumis zeigt in ihrer Ausstellung auf Daten basierte Kunstwerke, für die sie 195 Pässe ausgewertet hat samt ihrer verwendeten Symbolik: Vögel, Löwen, Pflanzen aller Art, und auch eine Kalaschnikow. In einem anderen Teil der Ausstellung klassifiziert sie in einer Porträtsammlung typische Vertreter der sowjetischen Filmindustrie. Ein dritter Baustein sind Texte, eine Art Collage aus globalen Lebensdaten; etwa dass die meisten Menschen am 9. September geboren sind, die Bibel lesen, mit Vornamen Mohammed heißen, mit Nachnamen Lee und mit weniger als zehn Dollar am Tag auskommen müssen. Die Vernissage in dem großen Raum ist gut gefüllt, Bliumis ist überrascht, "ich hatte mit weniger Publikum gerechnet". Aber sie erkennt: "Die Menschen sind offener geworden für zeitgenössische Kunst."

Der Künstler nahm Viagra und erschien nackt am Ort seiner Ausstellung, nur mit einem kleinen Schild bekleidet

Weißrussland ist ein autoritäres Land, was nicht bedeutet, dass es ein statisches Land ist. Es bewegt sich etwas, manchmal auch einfach vor und zurück, es ist ein fortwährender Kampf um Freiheit und Lebendigkeit in der Kunst. Die Y-Galerie gehört neben dem OK-16 mit seinen 8000 Quadratmetern Fläche zum kulturellen Zentrum des angesagten Fabrikviertels. Acht bis zehn private Galerien sind in den vergangenen Jahren in Minsk entstanden, sagt Anna Tschistoserdowa, die Art-Direktorin der Y-Galerie. Davor habe es gar keine gegeben.

"Die Menschen in Minsk sind interessierter geworden", sagt Tschistoserdowa, vor allem die junge Generation zeige sich hungrig nach Informationen und Anregungen, weshalb sie die wachsende Nachfrage mit Angebot bedienen will. "Wir versuchen den Minskern, die nicht so viele Möglichkeiten haben zu verreisen, etwas zu bieten, was sie sonst nur in den europäischen Museen sehen können", sagt sie. Dazu gehört etwa Alina Bliumis, die im vorigen Jahr in Berlin ausgestellt hat, aber Tschistoserdowa lotst auch ausländische Künstler in die weißrussische Hauptstadt.

Sich Freiraum zu verschaffen oder zu erhalten in einem von politischer Kontrolle geprägten Land, ist mühevoll und mitunter wiederum auch einfacher als gedacht. Zensur? Tschistoserdowa sagte, sie habe nie ein gravierendes Problem gehabt.

"Kultur hat gerade nicht die höchste Priorität für die Regierung." Wahrscheinlich sei Zensur wie auch die Selbstzensur in den staatlichen Institutionen groß. "Es ist aber auch nicht unser Hauptziel, etwas zu kritisieren", sagt sie. "Unsere Kunst ist ein Instrument zum Debattieren, zum Nachdenken. Wir sind nicht radikal." Im staatlichen Zentrum für zeitgenössische Kunst dagegen fühlte sich neulich der Künstler Alexej Kusmitsch vom Staat herausgefordert, weil einige seiner Werke nicht für eine Ausstellung genehmigt worden seien. Auf die Frage, warum, habe er vom Kulturministerium die Antwort erhalten, Hauptsache, es würden keine Phalli gezeigt, sagte Kusmitsch der Zeitung Nascha Niwa. Woraufhin er Viagra nahm und nackt am Ort der Ausstellung erschien, bedeckt lediglich mit einem kleinen Schild und der Aufschrift "Ministerium für Kultur".

Eine grenzenlose Form von Freiheit spüren aber auch die privaten Galerien nicht. Mehrmals hat die Y-Galerie Ausstellungen über Genderthemen und "mit LGBT-Bezug" (Tschistoserdowa) gezeigt. Dafür wurde es dann schwierig, Sponsoren zu finden, auf die private Galerien nun mal angewiesen sind in Weißrussland. "Nicht, dass solche Themen verboten sind", sagt die Kunst-Direktorin, "sie sind eben ein bisschen tabu."

Das allerdings betrübt sie nicht einmal am stärksten. Ein Blick über die Grenze nach Polen zeigt ihr, wie selbst ein EU-Staat zunehmend in den Kulturbetrieb eingreift. Tschistoserdowa macht sich vielmehr Sorgen um den weißrussischen Nachwuchs, der von den Kunstakademien kommt. Dort gibt es noch immer eine sowjetisch geprägte strenge Form der Ausbildung. "Die jungen Absolventen lernen, wie man malt, zeichnet, Skulpturen schafft. Aber ohne eine kritische Art zu denken", sagt sie.

Viele junge weißrussische Künstler verlassen deshalb das Land. Alina Bliumis und einige ihrer Kollegen leben in New York, in Düsseldorf, Amsterdam. "Wenn wir das Bildungssystem nicht ändern", sagt Tschistoserdowa, "dann haben wir demnächst leere Galerien. Oder wir zeigen alle dieselben Ausstellungen, und alle dieselben Künstler."

© SZ vom 15.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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