Kunstmesse Frieze:Sonnenbrillen zu Lampenschirmen!

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Goshka Macugas gewebte Infografik "1919/1933" (2019) bietet einen guten Überblick über Ideologie und Mentalität am Bauhaus. (Foto: Andrew Kreps Gallery)

Die letzte Frieze vor dem Brexit. Die einst tonangebende Messe richtet auf den bevorstehenden Regionalismus ein. Und London verabschiedet sich vom Anspruch, Weltstadt der Kunst zu sein.

Von Catrin Lorch

Die Künstlerin der Stunde ist Himali Singh Soin. Ganz offiziell. Sie hat gerade den Preis der Londoner Kunstmesse Frieze gerade gewonnen, im weißen Zelt im Regent's Park läuft inmitten der rund 200 Kojen ihr aktuelles Video "We Are Opposite Like That" in Dauerschleife. Man sieht die sehr fragile Frau durch Geröllfelder und Schneelandschaften stapfen, eingewickelt in eine silberfarbenen Rettungsdecke aus dem Erste-Hilfe-Koffer. Das Werk, für das Himali Singh Soin an beide Pole reiste, weist auf die Folgen des Klimawandels hin. Die Künstlerin und Filmemacherin sagt, dass es sich um die "Geschichte eines Verlusts" handele, weil sie bei den Dreharbeiten das Gefühl hatte, etwas zu dokumentieren, das bald verschwinde.

Man kann das als Besucher als widersprüchlich empfinden: Muss eine Künstlerin eine so eine lange Reise unternehmen, wo man doch weiß, dass Flugzeuge, Autos, Schiffsverkehr zum Klimawandel beitragen?

Die Händler fürchten, dass ihre kostbare Ware nach der Messe monatelang im Zoll festhängt

Und ausgerechnet die Frieze, die sie feiert, ist ein ressourcenverschlingendes Groß-Unternehmen - von den beiden immer größer werdenden Zelten, die in monatelanger Arbeit auf- und wieder abgebaut werden, bis zum VIP-Shuttle-Service. Die Sammler fliegen in Privatjets ein, die Kunst wird in Transportmaschinen angeliefert, in gewaltigen Kisten, die in den klimatisierten Hallen der Kunst-Transporteure zwischengelagert werden, bevor sie wieder auf die Reise gehen. Während der VIP-Preview protestierte vor der Eingangsrampe der Messe eine einsame Klima-Aktivistin, deren drei Transparente sich aber im Vergleich zu den Abmessungen der Gemälde, denen im Zelt die Aufmerksamkeit gilt, eher bescheiden ausnahmen.

Dennoch sollte Himali Singh Soin in diesem Herbst die Aufmerksamkeit der Kunstwelt gelten: Denn ihre Existenz in der so internationalen Kunsthauptstadt London ist ebenfalls bedroht. Sie wurde in Neu-Delhi geboren und lebt in London mit ihrem deutschen Partner. Sollte Großbritannien Ende des Monats die EU ohne einen "Deal" verlassen, können die beiden ihre Koffer packen.

Der britischen Hauptstadt, in der während der Eröffnung der Frieze im Parlament heftig um den Brexit gerungen wird, geht die Kunst verloren. Außer Himali Singh Soin werde auch Stars wie Wolfgang Tillmans gehen müssen, die das britische Publikum als Turner-Preisträger so gut wie adoptiert hat.

Bevor Wohnungen und Ateliers geräumt werden, kümmern sich die Spediteure aber erst einmal um die Kunst. Die Sammler mit Zweitwohnsitz in London haben längst abgehängt. Lager wurden aufgelöst. Galeristen feilschen um Abholtermine bald nach Messeschluss - niemand möchte, dass die kostbare Ware womöglich monatelang im Zoll festhängt. Und jetzt brechen auch so prominente Galeristen wie David Zwirner oder Jay Jopling auf, der Inhaber von White Cube. Beide haben zum Messebeginn angekündigt demnächst in Paris Räume zu eröffnen. "Nach dem Oktober wird meine Londoner Galerie nur noch eine britische Galerie sein, keine europäische", sagt Zwirner.

Die Skepsis gegenüber dem Standort teilen auch viele Sammler, die in diesem Jahr gar nicht anreisten und lieber direkt nach Paris zur Fiac fahren oder mit dem Kunstkauf auf die Art Basel Miami in der Vorweihnachtszeit warten. Überraschenderweise ist den Ausstellern in London aber, fast wie zum Abschied, eine sehr gute Messe gelungen.

Vor allem im Zelt für zeitgenössische Kunst, von der Koje im Eingang, die Gagosian allein den jüngsten, brüllgelben Gemälden von Sterling Ruby widmet, bis zur aufgeräumten Sektion "Forum" für junge Galerien. Von dem erstaunlichen Porträt des Poeten und Soldaten Michael Marullus Tarchaniota, das der Galerist Carlo Orsi als Werk Botticellis auf der Master-Messe mit dem Preisschildchen "30 Millionen Pfund" präsentiert, bis zu den schönen Fotografien des schwarzen Alltags von Gordon Park. Jim Lambie hat die Gläser von Sonnenbrillen in der Technik von Tiffany-Lampenschirmen zu einem gewaltigen Mosaik zusammen gepuzzelt, das bei Modern Institute so prominent gehängt ist, als bräche eine neue Zeit an, in der Sonnenbrillen auch keinen Schutz mehr bieten.

Doch wirkt diese ästhetische Weltläufigkeit fast befremdlich in einem Land, das sich vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die in London erscheinende Art Newspaper hat beispielsweise stolz aufgeschlüsselt, dass die "am häufigsten in London ausgestellten Künstler" allesamt Briten sind. Platz eins teilen sich Lucian Freud und David Hockney. Im Stadtmagazin Time Out stellt man auf zehn Seiten junge "in London lebende Künstler" vor. Und ausgerechnet die Direktorin der Messe, Victoria Siddall, stimmt englischen Galeristen zu, die angeben, sie würden sich künftig eben stärker auf "lokale Märkte" und "regionale Aktivitäten" konzentrieren, was keinen Widerspruch darstelle zur internationalen Tradition der Hauptstadt.

Die Zukunft gehört nicht dem Experiment, sondern dem eleganten Eklektizismus

Dagegen halten nur wenige an wie Jeremy Deller, ein Künstler, der mit dem Kunstwunder der Millenniumszeit in Großbritannien berühmt wurde. Er hat zur Frieze-Vernissage ein Mini-Poster entworfen. Es zeigt auf der vollen Breite einer Zeitungs-Doppelseite die britische Flagge, den Union Jack, in den die Zeile "Welcome to the Shit-Show" eingepasst ist in der gleichen Typografie, in der Chips-Hersteller auf den original-britischen Ursprung ihrer Kartoffeln hinweisen.

Die Frieze, die als junges, der zeitgenössischen Kunst verpflichtetes internationales Unternehmen vor zwei Jahrzehnten begann und den aufstrebenden Finanzplatz London mit Avantgarde versorgte, wird jetzt mit dem Standort erwachsen werden, werthaltiger, konservativer und erzbritisch. Die Zukunft, das zeichnet sich ab, gehört hier nicht der experimentierfreudigen, internationalen und politisch wachen Kunst, sondern dem jetzt schon höher aufragenden, zweiten Zelt der Frieze Masters. Dort sind die Preise höher, die Kunst älter, die Mischung elegant-eklektisch, wie am Stand von Hauser & Wirth, die klassische Gemälde auf Mid-Century-Wohnwände hängt. Drumherum werden nicht nur Botticelli-Millionenwerte gehandelt, sondern auch antike Skulpturen, kostbare Bücher, Donald-Judd-Skulpturen, Cy-Twombly-Gemälde, Picasso-Keramik und - erstmals - hochpreisige Armbanduhren. Es ist nicht die kulturhistorisch ausgreifende, offene Auswahl, die dem Publikum einst versprochen wurde, sondern ein raffinierter Mix, wie er auch in den Vitrinen teurer Hotels zu finden ist.

Die Gegenwart, die Politik, die Welt bleibt draußen. Obwohl: Auch in der gedimmten Atmosphäre der Frieze-Masters kann man den Begriff "Anthropozän" finden, also den Hinweis darauf, dass man derzeit in einem Erdzeitalter lebt, das vom Menschen und der von ihm verursachten Umweltzerstörung geprägt ist. Die Londoner Galerie Art Ancient hat ihr Angebot - Faustkeile, ägyptische Steintafeln, Riesenei - auf einer weich geschwungenen Zeitachse präsentiert, da taucht auch "Anthropocene" auf, ein gutes Stück nach dem Bau der Großen Pyramide und dem Zeitalter von Konstantin und ganz klein geschrieben.

© SZ vom 05.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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