Der Kunstmarkt und seine Messen:Zurück, aber anders

Lesezeit: 5 min

Michelangelo Pistolettos Werk "Two Less One coloured" auf der Art Basel in Hongkong im vergangenen Juni. (Foto: Vincent Yu/picture alliance)

Kunstmessen galten schon als Auslaufmodell. Jetzt haben die Veranstalter neue Ideen für die digitale und die analoge Welt.

Von Ingo Arend

"Es war, als würde man den Körper zurückbekommen, der zu den digital ermüdeten Augäpfeln passt." Eigentlich hasst Peter Schjeldahl Kunstmessen. Doch als der Kunstkritiker des US-Magazins New Yorker Anfang Mai die Kunstmesse Frieze im Big Apple besuchte, atmete er auf. Selbst an Arbeiten, die er sonst eher lahm gefunden hätte, freute sich der Mann plötzlich. Trotz Maske und Hygieneregeln fühlte er sich, so schrieb er in seinem Bericht, "wie ein Schwimmer, der vor dem Ertrinken gerettet wurde".

Zu Beginn der Pandemie schworen viele dem Messe-Hamsterrad ab

Mag sein, dass Schjeldahl nur der Euphorie angesichts einer lange ersehnten Wiederbegegnung nachgab. Womöglich steckte in seiner Erleichterung über die ausklingende Pandemie aber doch ein Funke Wahrheit über die Zukunft dessen, was durch das Coronozän zum Aussterben verurteilt schien: die Kunstmesse. Die Rochaden um die Art Basel unter ihrem neuen Ankeraktionär James Murdoch im vergangenen Jahr schienen wie ein Omen des Niedergangs. Und mit den Online-Viewing-Rooms (OVR) stand plötzlich der Sinn von Analogmessen im Raum.

Zu Beginn der Pandemie hatten sich noch viele, des globalen Messe-Hamsterrades Überdrüssige wie die Londoner Galeristin Rózsa Farkas, geschworen, künftig weniger Messen zu bedienen. Der ökologische Fußabdruck drückte auf die Moral, die Reise- und Hotelkosten auf das Budget. Farkas hatte eine Mischung aus Regionalmessen und globalem Onlinekauf prophezeit.

Vielerorts wechselten die Messen daraufhin in den Modus der Gallery Weekends. Die Art Brussels fiel vergangene Woche mit einem Modellversuch auf. Ihre "hybride Kombination" aus kuratiertem Online-Viewing und ausgewählten, offenen Galerien lief städteübergreifend ab: 39 Galerien in Brüssel, 19 in Paris, 15 in Antwerpen und sechs im Seebad Knokke beteiligten sich. Dass derlei Settings den Messen auf Dauer den Rang ablaufen könnten, wie es die US-Kritikerin Georgina Adams kürzlich prophezeit hatte, ist freilich noch nicht ausgemacht.

Sonst würde derzeit nicht eine Einladungswelle die Mailordner der Kunstliebhaber fluten, die zum Analogbesuch einladen: von der Neugründung Spark in Wien Ende Juni bis zum Newcomer der Jingart in Peking im November. Selbst die Art Brussels, ein Geheimtipp für junge, unkonventionelle Kunst, launcht im Herbst einen Ableger in Antwerpen. "Wir haben keine Angst vor einem Ende der Kunstmesse", sagt Anne Vierstraete, die Direktorin, im Gespräch mit der SZ. "Sie bleibt von entscheidender Bedeutung für die Dynamik des Marktes."

Auch der erfolgreiche Abschluss der Art Basel in Hongkong im Frühjahr scheint für Vierstraete zu sprechen. Stemmte sich die "Mutter aller Messen" an ihrem Schweizer Stammplatz noch gegen den Kollaps, konnte sie nun ausgerechnet in Fernost Erfolge vermelden. Zwar hatte sich die Zahl der Galerien auf der neunten Ausgabe ihrer volatilen Tochter im Vergleich mit der letzten Ausgabe mit 102 Ausstellern mehr als halbiert. Aber: "Es ist alles andere als normal, aber es ist ein erster Schritt, um das neue Hybridmodell zu testen. Wir sind glücklich", bilanzierte ein erleichterter Marc Spiegel, Global Director der Art Basel, den dreitägigen Parcours. Die New Yorker Galerie Lévy Gorvy konnte ein Gemälde der US-Malerin Joan Mitchell für 20 Millionen Dollar losschlagen. Galerist Iwan Wirth von Hauser & Wirth wollte gar eine "elektrische Atmosphäre" ausgemacht haben. Kein Wunder, dass Spiegel die auf den September verschobene Stammesse in Basel nun auf jeden Fall stattfinden lassen will.

Nicht nur zog die Art Basel Hongkong mehr Käufer aus der Umgebung an. Zum ersten Mal nutzte die Art Basel auch das von der kalifornischen ARHT Media entwickelte "Holopresence-Programm". Das futuristische Tool erlaubte es Galerien in Singapur, Genf und New York, Kunstwerke vor Ort auf der Messe als Live-Hologramme zu präsentieren. "Spooky, ein bisschen wie 'Blade Runner'", stöhnte die Hongkonger Kritikerin Vivienne Chow nach dem ersten Besuch im Darkroom.

Galerist David Zwirner nennt die Viewing-Rooms seinen "siebten Standort"

Technisch werden die Online-Viewing-Rooms (OVR) besser und vielseitiger. Den "siebten Standort" nennt David Zwirner inzwischen sein virtuelles Standbein, neben seinen drei Dependancen in New York und denen in Paris, London und Hongkong. Die 100 Originale junger Künstler, die Follower seiner Galerie seit Kurzem auf einer "Platform" eine Woche lang anschauen können, lassen sich noch detailschärfer heranzoomen als die reichlich karg konstruierte "Galerieplattform.de", mit der die Art Cologne vergangene Woche für die nächste Ausgabe des zum "Artpole of the World" aufgeblasenen Events im Herbst warb. Messechef Daniel Hug will mit seiner Plattform bewusst keine Messe simulieren. Jeder Galerist konnte nur ein Werk einspeisen.

Anders als bei den Blue-Chip-Häusern. Die halten sich die OVR's längst nicht mehr bloß als Notnagel. Sondern entwickeln sie zu Bühnen raffinierten Storytellings. Wer auf Zwirners "Platform" liest, wie der New Yorker Künstler Kenny Rivero von seinen nächtlichen Stadtwanderungen während der Pandemie erzählt oder wie er nach dem Sturm auf das US-Kapitol beschloss, ins Fitnessstudio zu gehen, um sich für den nächsten Volksaufstand zu wappnen, spürt plötzlich eine intime Nähe zu den Präsentierten. Albert Oehlen teilt in seinem OVR beim New Yorker Mega-Galeristen Gagosian gar seine Playlist.

Sotheby's setzt schon seit einigen Jahren auf künstliche Intelligenz

"Wir setzen nicht nur Jpegs und Zitate auf die Seite", sagt Elena Soboleva, Direktorin Online Sales bei David Zwirner. "Wir tun alles, was Sie für eine normale Show tun würden. Das Endergebnis hängt nicht in einem Raum, es lebt in diesem Online-Format." Die Begründung für den "Live"-Kanal, den die Bostoner Nobel-Galerie Pace schon 2019 auflegte, klingt fast wie die des "Neustart"-Programms der deutschen Kulturstaatsministerin. Der Mega-Dealer will Künstlern weltweit dabei helfen, "Öffentlichkeiten zu engagieren" und die "Post-Covid-World" vorzubereiten.

Strategisch denkt auch das Auktionshaus Sotheby's. Schon seit ein paar Jahren setzt es auf künstliche Intelligenz. Für eine nicht genannte Summe erwarb das 1744 gegründete Traditionshaus 2018 das Techno-Start-up Thread Genius. Dessen Gründerduo hatte die algorithmengetriebenen Empfehlungen der Musikplattform Spotify revolutioniert. Schon 2016 hatte sich Sotheby's zudem den "Mei Moses Art Index" zugelegt. Das Archiv vergleicht die Auktionsergebnisse seit 1875 von rund 80 000 Objekten, die schon mehrfach versteigert wurden, und leitet daraus Tendenzen ab. Mit der Analyse historischer Transaktionen und der Prognose individueller Kaufpräferenzen basteln Andrew Shum und Ahmad Qamar nun an einer Art Shazam für den Kunstmarkt.

Daran hatten sich die Art Basel, das New Yorker Met und die Eremitage auch schon mal versucht: Smartify und PRNCPL hießen ihre inzwischen fast vergessenen Tools. Zudem sollen bald ganz normale Sammler bei Sotheby's Kunstwerke einstellen können, ohne lange auf die nächste Auktion warten zu müssen. So bahnt sich eine Deterritorialisierung von Kauf und Tausch an: ein permanenter, ortsunabhängiger Kunstmarkt, der Tag und Nacht geöffnet sein wird und weiße Kojen und Champagnerempfänge nur noch als symbolischen Beweis seiner Existenz inszeniert. Für Anne Vierstraete liegen die Vorteile auf der Hand: "Mit den neuen High-End-Tools werden wir uns zu einer hybriden Welt weiterentwickeln."

Ganz ersetzen kann freilich auch die ausgekochteste Digitalisierung das analoge Messegeschäft nicht, darin sind sich fast alle Sammler, Messemacher und Galeristen einig. Nicht nur wegen der fehlenden Aura realer Objekte im Raum. Sondern auch wegen der digital nicht ersetzbaren Verdichtung der Kommunikation und dem wiedererwachenden Fun- und Distinktionsbedürfnis des internationalen Kunst-Jetsets.

Expandiert wird auch im physischen Raum - die Frieze geht nach Südkorea

Vielleicht erklärt das, warum die Messepioniere jetzt neue Schürfgründe im physischen Raum erschließen wollen. Den Versuch, die Art Basel nach Indien auszudehnen, hatte die Basler MCH-Group vor ein paar Jahren wegen der Erosion ihres Mutterhauses aufgegeben. Dafür geht jetzt die Frieze nach Südkorea. Und zwar nicht nur, weil Hongkong bald zur Diktatur werden könnte: Dort locken vielmehr das dreiprozentige Wirtschaftswachstum und entspannte Steuersätze. Galeristen wie Thaddeus Ropac, Pace und der Tausendsassa Johann König wissen also, warum sie fast zeitgleich angekündigt haben, dort Dependancen zu gründen. Im September nächsten Jahres fällt der Startschuss für "Go East!". Dann wird die Frieze ihren fünften Ableger in dem unterirdischen Shopping- und Unterhaltungscenter COEX-Mall eröffnen. Auf der Liste der 50 Top-Länder mit Vermögensmillionären rangiert Südkorea inzwischen auf Platz 14 - nach einem Insider-Report der Credit Suisse wohnen mehr als 740 000 von ihnen in Südkorea.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusStreit um deutsch-russisches Ausstellungsprojekt
:"Wenn die Kunst spricht, spricht sie bis zum letzten Moment"

"Diversity United" heißt eine monumentale Ausstellung im Berliner Flughafen Tempelhof. Ihre Themen: Europa, Freiheit, Demokratie. Einer der Schirmherren: Wladimir Putin - ausgerechnet. Warum das Ganze in mehr als einer Hinsicht bizarr ist.

Von Sonja Zekri

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: