Kunst:Laokoon auf Außenposition

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Die Vatikanischen Museen in Rom feiern den Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann mit einer Ausstellung, die zu den Ursprüngen der Kunstgeschichte zurückführt.

Von Thomas Steinfeld

Irgend jemand wird die Skulpturen und die Gemmen, die Gemälde und die Reliefs, die Vasen, den Säulenschmuck und die Kandelaber gezählt haben, die in den Vatikanischen Museen ausgestellt werden. Doch wie immer ihre Zahl auch lauten mag: Die Menge entzieht sich dem gewöhnlichen Verstand. Inmitten dieser halben Unendlichkeit schufen nun die Kuratoren der päpstlichen Museen eine kleine Ordnung: Fünfzig Werke stellten sie heraus, aus Anlass des 300. Geburtstags und des 250. Todestages Johann Joachim Winckelmanns, zwar ein wenig verspätet (die Jubiläen fanden schon im vergangenen Jahr statt), aber um so repräsentativer.

Ein Parcours führt nun durch die Hallen, Flure und Säle: am Apoll auf dem Hof des Belvedere vorbei, dem "höchsten Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums", wie Winckelmann schrieb, an der Statue der ägyptischen Königin Tuja vorüber, die Winckelmann veranlasste, über das Dekor der Brustwarzen zu spekulieren, mit einem Innehalten vor Raffaels "Schule von Athen", bei dem Winckelmann der erhobene Zeigefinger Platons auffiel. Eine Verbeugung vor Winckelmann ist diese Ausstellung, mehr nicht. Denn nicht nur, dass Winckelmann viel mehr Werke der päpstlichen Sammlungen kannte, als in der Auswahl ersichtlich wird. Vielmehr hieße es auch den Einfluss Winckelmanns auf die Vatikanischen Museen unterschätzen, würde man ihn mit einer Auswahl identifizieren, und wäre diese auch noch so repräsentativ.

Johann Joachim Winckelmanns Schriften lagen nicht nur in den Händen unzähliger Reisender, die Rom im ausgehenden 18. Jahrhundert besuchten, sie bildeten nicht nur für Karl Philipp Moritz und Johann Wolfgang Goethe die Erläuterung und Richtschnur bei der Betrachtung dieser Werke. Sie dienten auch als ebenso theoretische wie praktische Grundlage bei der allmählichen Wandlung der zu Winckelmanns Zeit vorhandenen oder neu entstehenden römischen Sammlungen antiker Kunst in Museen, im Hinblick auf deren zeitliche Ordnung, auf deren Beschreibung, auf das kunstgeschichtliche Urteil - ganz abgesehen davon, dass sie auch großen Einfluss auf das Ausgraben, auf das Sammeln und den Handel mit antiken Kunstwerken nahmen. Insofern war es nur folgerichtig, dass, nachdem im vergangenen Jahr die Kapitolinischen Museen einen Parcours zu den Werken einrichteten, die päpstlichen Sammlungen nun etwas Ähnliches tun. Vielleicht wird eines Tages sogar die Villa Albani an der Via Salaria wieder zugänglich, der Palast, den Johann Joachim Winckelmann für die Antikensammlung des Kardinals Albani einrichtete und in dem sich noch immer ein von ihm hochgerühmtes Antinoos-Relief befindet. Allerdings gilt für die Vatikanischen Museen der nicht geringe Unterschied, dass fünfzig Werke, und wären es auch die berühmtesten, darin mehr oder weniger untergehen - während Tausende von Schritten unaufhörlich in Richtung Sixtinische Kapelle trappeln.

Und so steht der Besucher, der Winckelmanns wegen gekommen ist, ein wenig verloren in dem riesenhaften Labyrinth, das diese Museen bilden, und sucht die blauen Schilder, die ihm ankündigen, dass der erste professionelle Kunsthistoriker der Welt sich mit diesem oder jenem Werk auseinandersetzte. Die Laokoon-Gruppe befindet sich, wo sie immer schon stand, wie immer vielfach verschlungen, im Hof des Belvedere. Auf der Tafel wird knapp berichtet, wen sie darstellt, dass Winckelmann sie oft betrachtete und mehrmals beschrieb, dass er (fälschlich) glaubte, der verlorene Arm des trojanischen Priesters sei von Michelangelo ergänzt worden. An dieser Statuengruppe hatte sich aber eine der großen ästhetischen Debatten des späten 18. Jahrhunderts entzündet, wobei es keineswegs nur um das Verhältnis von Sprache und bildender Kunst ging. Vielmehr erhob Winckelmann in seinen Beschreibungen das Betrachten von Kunstwerken, dargeboten mit literarischen Mitteln, in den gleichen intellektuellen Rang, den zuvor nur die klassische Philologie innehatte. Von solchen Umwälzungen weiß das Publikum heute nichts mehr. Und doch ist es, ausgerüstet mit dem touristischen Blick, deren Erbe.

Im selben Sinn wird der Besucher zum Torso vom Belvedere in der Sala delle Muse geführt, zum mächtigen Trümmerstück einer Skulptur, die vielleicht griechisch ist, vielleicht eine römische Kopie, und die Winckelmann für ein Bildnis des Herkules hielt, während sie möglicherweise Ajax darstellt, bereit, sich in sein Schwert zu stürzen - oder den Satyr Marsyas, bevor ihm die Haut abgezogen wird. "Der erste Anblick", schrieb Winckelmann, "wird dir vielleicht nichts als einen verunstalteten Stein entdecken; vermagst du aber in die Geheimnisse der Kunst einzudringen, so wirst du ein Wunder derselben erblicken, wenn du dieses Werk mit einem ruhigen Auge betrachtest." Der Körper wie ein "Meer", der Rücken wie "Berge": Solche Beschreibungen beschäftigten, im zustimmenden wie im ablehnenden Sinn, die Winckelmann nachfolgenden Bewunderer der antiken Kunst. Doch ist es eigentlich von minderer Bedeutung, ob (wie in diesem Fall) Johann Gottfried Herder den Enthusiasmus in der literarischen Darstellung tadelte: Der Erfahrung Winckelmanns, dass hier ein Werk die Subjektivität transzendiert und tatsächlich universal ist, kann sich doch keiner entziehen.

Vielleicht ist der Eindruck, sich gegen die Massen behaupten zu müssen, ja gewollt, denkt sich der Besucher. Vielleicht leben die Kuratoren der päpstlichen Museen ja in dem Bewusstsein, dass für den Geschmack in Fragen der Kunst immer noch gelte, was das späte 18. Jahrhundert von ihm dachte: dass er nämlich subjektiv und verbindlich zugleich zu sein habe - dass es sich also, weil jedes Kunstwerk einen Wahrheitsanspruch in sich trägt, gleichsam von selbst ergibt, welchen Werken man ein besonderes Augenmerk zuwendet. Es mag allerdings auch die Umkehrung gelten, dass nämlich die Kuratoren über einen solchen Reichtum an Kunstwerken und Kunstgeschichte verfügen, dass sie die Ursprungsgeschichte des Museums und ihrer selbst wie einen Bonus behandeln, den man den Eingeweihten mit der linken Hand präsentiert, während die rechte Hand die anderen Besucher routiniert zum Weitergehen auffordert.

Winckelmann. Capolavori diffusi nei Musei Vaticani. Vatikanische Museen, Rom. Bis 9. März. Der Katalog ist auf Italienisch und auf Englisch erhältlich und kostet 35 Euro.

© SZ vom 23.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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