Kunst:Einzigartig andersartig

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Henry Dargers Schaffen zeichnet sich durch Umfang, Inhalt und Einfallsreichtum aus. Die undatierten Aquarelle stammen aus seinem 15 000 Seiten umfassenden Hauptwerk „In den Reichen des Unwirklichen“ und zeigen die unverwüstlichen Vivian Girls im fortwährenden Kampf gegen das Böse. (Foto: Kiyoko Lerner / VG Bild-Kunst, Bonn 2019)

"Gegen den Strich: Chicago Calling" ist eine ganz besondere Ausstellung im Kunsthaus Kaufbeuren. Die Gemälde, Zeichnungen, Collagen und Plastiken verdeutlichen, wie beeindruckend Außenseiterkunst sein kann

Von Sabine Reithmaier

Die Abfolge der Ausstellungsstationen ist ungewöhnlich: Paris, Kaufbeuren, Lausanne, Amsterdam. Jan T. Wilms, Direktor des Kunsthauses Kaufbeuren, ist schon ein wenig stolz darauf, dass es ihm gelungen ist, sich zwischen die Großstädte zu schieben und "Gegen den Strich: Chicago Calling" in sein Haus zu holen. Eigentlich sollte die Ausstellung über amerikanische Außenseiterkunst auch nicht im Allgäu, sondern in der Heidelberger Sammlung Prinzhorn präsentiert werden. Doch das Museum, spezialisiert auf Kunst von Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen, wird gerade umgebaut. So kam Wilms zum Zug, der in Kaufbeuren, unterstützt von Prinzhorn, schon 2015 eine ganz ausgezeichnete Art-Brut-Schau kuratiert hatte. Auch die aktuelle Ausstellung mit 80 Gemälden, Zeichnungen, Collagen und Plastiken ist fabelhaft.

Zehn Künstler treffen im Kunsthaus aufeinander: Fünf Weiße, meist Einwanderer der ersten Generation, und fünf Schwarze. So unterschiedlich ihre Stile und Ausdrucksformen sind, haben sie doch einige Gemeinsamkeiten: Sie lebten, zumindest zeitweise, in Chicago, keiner hat eine akademische Ausbildung. Die meisten sind geprägt von traumatischen Erfahrungen, der künstlerische Rückzug in imaginäre Fantasiewelten dient auch der Lebensbewältigung. Gregory Warmack (1948 bis 2012) zog es vor, sich nach wochenlangem Koma - er war bei einem Überfall angeschossen worden - Mr. Imagination zu nennen. Er kreiert zauberhafte Objekte aus Alltagsgegenständen. Pinsel werden zu Haaren, Kronkorken zu bunter Kleidung. Kunstvoll verzierte, aufeinander gesetzte Köpfe aus Sandstein bilden Totem-Pfähle. Er verarbeitet weggeworfene Konsumgüter, "um die Menschen auf Dinge aufmerksam zu machen, die wir in der Geschichte benutzt haben", zitiert ihn der Katalog.

Lee Godie (1908 bis 1994) fängt den Besucher mit ihren fotografischen Selbstporträts ein. Selbstbewusst blickt sie in wechselnden Inszenierungen ins Kameraauge. Manchmal überarbeitet sie die an Fotoautomaten entstandenen Polaroids farblich, näht sie untereinander auf eine Leinwand. Sie malt auch Porträts, Männer gern als Soldaten oder Dandys, Frauen als feminine Schönheiten. Kaum zu fassen, dass die in Chicago geborene Künstlerin, traumatisiert durch den Tod ihrer zwei Kinder, von den frühen Sechzigerjahren an auf der Straße lebte, in Gärten und Schaufenstern schlief und dort auch malte. Ihre Bilder vermarktete sie so selbstbewusst, dass sie laut Katalog als am weitesten verbreitete und gesammelte Außenseiterkünstlerin Chicagos gilt.

Ganz anders der Lebenslauf von Pauline Simon. 1894 in Minsk geboren wandert sie ohne ihre Familie 1911 in die USA aus, arbeitet als Theaterfriseurin, heiratet einen Zahnarzt. Erst als 70-Jährige beginnt sie Landschaften und Menschen zu malen, erprobt sich, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren, in Impressionismus, Pointillismus, Kubismus. Aldobrando Piacenza (1888 bis 1976) hielt die Erinnerung an seine Heimat Italien mit dem Bau von Vogelhäusern wach. Jede Behausung ein detailgetreues Kathedralenmodell mit Einschlupflöchern, einmal vorne, dann wieder hinten. Aber das, so wird Piacenza zitiert, sei den Vögeln egal gewesen.

Henry Darger, einer der berühmtesten Vertreter der Outsider-Art, wäre fast unentdeckt geblieben. Sein Vater, ein behinderter Schneider, gab das Kind nach dem frühen Tod der Mutter ins Waisenhaus. Zwölfjährig landet er in der Anstalt für schwachsinnige Kinder in Lincoln, Illinois, wo die Zöglinge regelmäßig misshandelt werden. Darger flüchtet mehrmals und schafft es irgendwann nach Chicago. Dort arbeitet er als Hausmeister und gleichzeitig jahrzehntelang an seinem berühmtesten Werk "In den Reichen des Unwirklichen". Erst kurz vor seinem Tod 1973 entdecken die Vermieter beim Räumen der Wohnung sein Opus Magnum: Auf 15 000 Seiten und in mehr als 300 Collagen erzählt er in immer neuen Varianten die Geschichte der Vivian Girls, sieben junge Schwestern, die den Aufstand gegen ein grausames, Kinder versklavendes Regime unterstützen. Sie erleiden Niederlagen, ertragen schreckliche Foltern, sterben ungezählte Tode. Manche Bilder strotzen vor brutalen Grausamkeiten, andere beschwören heitere Idyllen herauf - verblüffend sind das Nebeneinander und der immense Detailreichtum.

Faszinierend auch die Skulpturen von Dr. Charles Smith; den Doktortitel nahm er an, um seine von "göttlichen Visionen" angeregte Weisheit zu vermitteln. Er spürt in seinem Werk der Geschichte der Afroamerikaner nach und setzt ihnen ein Denkmal. Seine Erfahrungen als farbiger Soldat in Vietnam und der Zorn über den allgegenwärtigen Rassismus der Vereinigten Staaten prägen seine Figuren, egal ob es sich um einen schwangeren schwarzen Teenager handelt, oder den sitzenden Mann, der an seinen Korbstuhl gekettet ist: "Like Father, Like Son - Eternal slave".

Gegen den Strich: Chicago Calling - Amerikanische Außenseiterkunst , bis 26. Januar im Kunsthaus Kaufbeuren

© SZ vom 06.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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