Kunst:Ein Genie in der U-Bahn

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Kurz vor dem Brexit entdeckt die Tate Britain Vincent van Gogh als Anglophilen. Tatsächlich prägte ihn sein dreijähriger London-Aufenthalt mehr, als bisher bekannt war.

Von Kia Vahland

Vincent van Gogh fährt in London U-Bahn. Am Wochenende liest er Charles Dickens in den Parks der Stadt. Er malt hier nicht, sondern geht einem geregelten Bürojob nach bei einer Kunsthandelsfirma, die sich auf fotografische Reproduktionen spezialisiert hat. Wenn van Gogh nicht ins Büro muss, spaziert er an der Themse oder streift durch die National Gallery und das British Museum. Er führt ein urbanes Leben. Sein romantischer Traum ist die Kunst der Verführung. Seine Vermieterin hat eine Tochter, um deren Herz er vergebens ringt. Ansonsten beschäftigt ihn die Industrialisierung: Das Elend der Proletarier und Lumpenproletarier im England der 1870er-Jahre erschüttert den Niederländer. Einen solch großstädtischen van Gogh, wie er gerade in einer Ausstellung der Tate Britain in London zu erleben ist, können sich Kunstliebhaber des 21. Jahrhunderts nur mit Mühe vorstellen. Doch genau diesen van Gogh gab es auch. Dem Klischee nach soll der Maler ausschließlich über hitzige Sonnenblumenfelder in der Provence streifen, er muss an sich selbst leiden, nicht an der Welt. Und er soll nur für die Kunst leben, die er nicht aus dem Vergleich mit Kollegen, sondern allein aus sich selbst zu schöpfen hat.

Ganz unschuldig ist van Gogh an diesem Image nicht, in seinen Briefen kreist er oft um die eigene Seele. Die Hauptverantwortung für das Bild vom einsamen, wirren und abgeschieden lebenden Genie tragen aber spätere Verehrer. Der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe strebte Anfang der Zwanzigerjahre ausdrücklich eine "Legendenbildung" an, was ihm auch gelang. Irving Stones van-Gogh-Roman von 1934 machte aus dem Künstler dann den Prototypen des verkannten Genies, und die diversen Spielfilme von Vincente Minnellis Melodram mit Kirk Douglas in der Hauptrolle bis zu dem diesjährigen Film von Julian Schnabel mit Willem Dafoe leben in unterschiedlichen Schattierungen vom Mythos des gefühlsgesteuerten, unglücklichen und besessenen Malers.

Er interessierte sich für das Elend in den Slums und das Leid in den Gefängnissen

Das mag nicht ganz falsch sein, doch es blendet zu viel aus. Seit einigen Jahren suchen Ausstellungsmacher nach den unbekannten Seiten van Goghs, was heißt: nach Spuren eines zeittypischen Lebens, wie es auch ein solcher Ausnahmekünstler führte. In diesem Sinne entdeckt die Tate Britain in ihrer Schau van Gogh als Gesellschaftskritiker und Englandliebhaber.

Denn bevor van Gogh sich für die Malerei entschied, lebte er mit Anfang 20, zwischen 1873 und 1876, in London. Dort diente er der Kunsthandlung Goupil, ließ aber offenbar die Arbeit schleifen und wurde entlassen. Trotzdem dachte er noch nicht an die Kunst, sondern verdingte sich als Hauslehrer und strebte eine Laufbahn als Prediger an. Er las viel, vor allem sozialkritische Romane, und informierte sich in Stichen, Holzschnitten und Zeitungsbildern über die Zustände in den Slums. Die düsteren Arme-Leute-Grafiken von Gustave Doré, dessen Londonbuch 1872 erschienen ist, dürften den jungen Mann stärker geprägt haben als die Antiken in den Londoner Museen.

Auf den ersten Blick erscheint der Ansatz der Londoner Kuratoren patriotisch bemüht: Soso, die Kunst dieses frankophilen Niederländers soll sich jetzt also den Engländern verdanken, und das, obwohl er in seiner Londoner Zeit noch gar nicht wusste, dass er einmal malen würde. Doch es gelingt den Ausstellungsmachern, anhand von van Goghs späteren Zeichnungen und Gemälden sowie anhand seiner Briefe nachzuweisen, wie sehr die britische Erfahrung sein Schaffen prägte. Rund 50 seiner Arbeiten sind zu sehen, darunter bekannte Gemälde wie seine "Sonnenblumen" (die der National Gallery gehören und deshalb später britische Künstler inspirierten) oder das Porträt von Marie Ginoux, der Café-Besitzerin aus Arles. Vor sich hat sie ein Buch von Dickens liegen sowie den Sklaverei-Roman "Onkel Toms Hütte" von Harriet Beecher Stowe - so verkörpert das Bild bei aller südländischen Wärme zugleich van Goghs gesellschaftspolitische Sorgen.

Besonders ein Blatt von Doré hat es van Gogh angetan, es zeigt den dunklen Hof eines Gefängnisses, in dem die Häftlinge im Kreis laufen. Die Möglichkeit, eingesperrt zu werden, scheint ihn lange beschäftigt zu haben, er besaß rund 30 Drucke mit Gefängnismotiven. Und tatsächlich fand van Gogh sich später ja auch hinter Schloss und Riegel wieder, nämlich in einer psychiatrischen Anstalt. Nach dieser Erfahrung, um 1890, griff er Dorés Idee auf und übersetzte sie in dunkel leuchtende Farbe. Ein Gefangener schaut nun aus dem Kreis heraus die Betrachter an, lädt sie zur Identifikation ein. Offenkundig geht es dem Maler nicht um die Zustände in britischen Haftanstalten, sondern um das Gefängnis als Metapher für die Enge des Lebens im Allgemeinen und um sein Erleben der Krankheit im Besonderen.

Die britischen Nachfolger van Goghs kommen an ihn nicht heran

Auch das gehört zu van Gogh: das Interesse an Alter, Armut, Krankheit im großen Ganzen, das dann in den eigenen schwierig zu ertragenen Empfindungen widerhallt. Bloß weil er mit sich selbst beschäftigt ist, heißt das nicht, dass er die anderen armen Schlucker vergisst. Wie genau er sich später, als er seinen wilden, starken und manchmal grellen Strich gefunden hat, an die Inspirationen aus England erinnert, zeigt die Schau an etlichen Beispielen.

So besaß van Gogh einen Druck von Luke Fildes' Stich des leeren Stuhls, den Charles Dickens bei seinem Tod im Jahr 1870 hinterlassen hatte - und nahm das Motiv in seinem inzwischen berühmten Gemälde eines leeren Stuhls auf. Der Stuhl des Künstlers aber ist kein gediegener Schreibtischsessel, sondern bei ihm steht ein bäuerliches Exemplar aus gelb gestrichenem Holz auf Küchenfliesen. Wieder triumphiert die Farbe, und van Gogh macht sich das einfache Leben der Leute vom Land demonstrativ zu eigen.

Die Verbundenheit mit den kleinen Leuten, da haben die Ausstellungsmacher recht, ist neben seinem mutigen Farbeinsatz die zweite große Kraftquelle von van Goghs Malerei. Diese besondere, sehr subjektive Mischung aus Welt- und Seeleninteresse ist aber nur ihm zu eigen.

Deshalb geht die Schau ins Leere, als sie in den hinteren Sälen dann auch eine Reihe britischer Künstler als Nachfolger van Goghs bemüht, nur weil diese sich auf ihn beziehen. Außer dem auf andere Art genialen Francis Bacon aber entfaltet keiner der hier gezeigten Maler die Wucht, Sensibilität und Leidenschaft des großen Vorbilds. Van Gogh bleibt auch in dieser Ausstellung unerreicht.

Van Gogh and Britain. Tate Britain, London. Bis 11. August. Katalog 25 Pfund.

© SZ vom 12.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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