Kulturpolitik:Mehr Ideen als Franken

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Zürich feiert 100 Jahre Dada - und das Cabaret Voltaire, wo alles begann, steht zum Verkauf. Die Betreiber kämpfen nun verzweifelt um eine Perspektive für ihr Kulturzentrum.

Von Christopher Schmidt

In seiner Tübinger Poetikvorlesung sagte der Schriftsteller Clemens J. Setz vor Kurzem, wie schon Kurt Tucholsky gehe er in einer neuen Stadt am liebsten gleich in eine Apotheke. "In Apotheken herrscht die Atmosphäre eines weltweiten Dada", so Setz, denn die "herrliche Hugo-Ball-Poesie" der Medikamentennamen sei die "mit Abstand lebendigste Nonsensdichtung unserer Tage". Und: "Bestimmt existieren Kreativ-Abteilungen in Pharmaunternehmen, die einander tagelang Lautgedichte vortragen", bestehend aus Silbenfolgen wie: Panitumumab, Trasgex, Xarelto, Efalizumab oder Alefazept.

Zu dieser Beobachtung scheint seltsam zu passen, dass aus dem von Hugo Ball am 5. Februar 1916 gegründeten Cabaret Voltaire in Zürich nach dem Willen des Hausbesitzers, des Versicherungsunternehmens Swiss Life, beinahe tatsächlich eine Apotheke geworden wäre. Doch einige Künstler verhinderten damals im Jahr 2002 die geplante Luxussanierung, indem sie das Gebäude besetzten und damit die Urzelle der weltweiten Dada-Bewegung vor dem Verschwinden bewahrten. Zwei Jahre später konnte das Cabaret Voltaire offiziell neu eröffnet werden, dank eines Zuschusses der Stadt Zürich, die seit 2004 die jährliche Miete in Höhe von 315 000 Schweizer Franken zahlt. Und dank der Firma Swatch, die einen Teil des Betriebs finanzierte.

Da diese Übernahme der Mietkosten jedoch immer nur zeitlich befristet beschlossen werden kann, muss alle paar Jahre neu darüber entschieden werden. 2008 kam es auf Initiative der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) sogar zu einem Referendum, das mit 65,1 Prozent der Stimmen zugunsten des Cabaret Voltaire ausging. Die SVP war von Anfang an gegen den Erhalt der Geburtsstätte des Dadaismus gewesen und scheute 2013 nicht davor zurück, die pazifistische Ausrichtung der von Flüchtlingen und Kriegsdienstverweigerern im Ersten Weltkrieg ausgerufenen Kunstbewegung als "nachträgliche, gutmenschliche Projektion" zu bezeichnen. Überdies war der nationalistischen Partei das anarchische Treiben der Neo-Dadaisten in den traditionellen Räumen ein Dorn im Auge.

Obwohl die Miete bis 2017 und damit über das Jubiläum 100 Jahre Dada hinaus gesichert werden konnte, kämpft das chronisch unterfinanzierte Haus bis heute um sein Überleben. Zeitweilig hatte das Cabaret Voltaire Lotto-Gelder erhalten sowie Zuwendungen von Stiftungen und privaten Spendern. Doch diese Mittel seien mittlerweile verbraucht, so der Leiter des Cabaret Voltaire, Adrian Notz. Auch der Sponsor Swatch, der die Einrichtung bis 2008 mit 330 000 Franken jährlich unterstützte, habe seinen ausgelaufenen Vertrag nicht verlängert, weil er sich von der Stadt schlecht behandelt fühlte. Gestiegen sind dagegen die Kosten, weil beispielsweise aufgrund einer Kündigung neue Büroräume angemietet werden und ein Darlehen über 120 000 Franken bei der Stadt aufgenommen werden musste, das in diesem Jahr abgezahlt sein wird. Auch für die Jubiläumsfeierlichkeiten gab es keine zusätzlichen Mittel, 100 000 Franken kamen durch eine Crowdfunding-Kampagne zusammen. Weitere Mittel steuerten private Stiftungen bei.

Und die Finanznot ist dem Cabaret Voltaire anzusehen. Im Eingangsbereich gibt es einen kleinen Shop, in dem neben Dada-Publikationen der übliche Museums-Tand und die unvermeidlichen Freitag-Taschen angeboten werden. Der Saal der ehemaligen Meierei, in dem die Zürcher Dadaisten um Hugo Ball, Emmy Hennings, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck und Marcel Janco ihre Soireen gaben, erfordert viel Fantasie, um vom Genius loci ergriffen zu werden. Denn außer der Voltaire-Büste, nach der sich das Cabaret benannt hatte, ist von der ursprünglichen Ausstattung nichts erhalten geblieben. An den Wänden hängen immerhin Originale von Jonathan Meese, Bazon Brock und Jake & Dinos Chapman. Und im Untergeschoss, in der sogenannten Krypta, ist eine Multimedia-Installation über die Geschichte des Dadaismus ersetzt worden durch die performative Ausstellung "Obsession Dada".

Die Betreiber erklären das Haus einfach zur Skulptur - auch wenn es ihnen gar nicht gehört

Darüber hinaus bietet das Cabaret Voltaire regelmäßig Stadtspaziergänge zu den einschlägigen Zürcher Dada-Orten an. Dabei kann es einem allerdings passieren, dass der Cicerone gleich mal mitteilt, er sei eigentlich Soziologe und habe keine Ahnung vom Dadaismus. Er wolle die Besucher vor allem mit dem rebellischen Dada-Virus anstecken, die Fakten könne ja heute jeder selber googeln. Mit 15 Franken schlägt dieses doch etwas eigenwillige Service-Paket zu Buche. Da habe man leider einen schlechten Tag erwischt, sagt Adrian Notz, aber für ihn sei es ein Fortschritt, dass er als Direktor nicht mehr selbst sämtliche Führungen machen müsse.

Es gibt also allemal offene Baustellen im Cabaret Voltaire, das seinen Mitarbeitern viel Improvisationstalent und Bereitschaft zur Selbstausbeutung abverlangt. Umso dringlicher zeigt sich, dass etwas getan werden muss. Doch stattdessen leistet sich die Stadt Zürich ausgerechnet im Jubiläumsjahr eine Debatte um den Fortbestand der Gedenkstätte. Denn momentan laufen die Verhandlungen um eine weitere Verlängerung der Mietübernahme von 2017 bis 2020, verbunden mit einem Antrag bei der Stadt, sich an den jährlichen Betriebskosten von 500 000 Franken mit einem Beitrag von 150 000 Franken zu beteiligen. Und wieder ist es neben der FDP und der CVP vor allem die SVP, die sich querlegt. Dabei würde dieser Betrag es dem Cabaret Voltaire nicht einmal erlauben, als aktive Kulturinstitution tätig zu werden. "Aber", sagt Adrian Notz, "wir müssten zumindest den Saal seltener vermieten und könnten den Shop weniger kommerziell betreiben."

Um auf ihre prekäre Situation aufmerksam zu machen, nutzen Notz und seine Mitstreiter den Rückenwind des Jubiläums und der damit verbundenen internationalen Aufmerksamkeit. Nach Goethes Wort, dass Kunst ein ernstes Spiel sei, haben sie eine echt dadaistische Aktion ins Leben gerufen und das Cabaret Voltaire vom Künstler Kerim Seiler zur Skulptur erklären lassen, zu einem Gesamtkunstwerk, für das sie einen Käufer suchen. Für 13 Millionen soll das Gebäude den Besitzer wechseln.

Natürlich kann man schlecht verkaufen, was einem gar nicht gehört, "aber wir bieten das Haus ja nicht als Immobilie, sondern als Skulptur an, für deren Preis man das Haus dazukaufen kann", so Notz. Einfacher und logischer wäre es gewiss, wenn die Stadt Zürich das Gebäude erwerben und zur festen Kulturadresse machen würde. Schließlich gebe es auch im Zunfthaus zur Waag, sagt Notz, in dem Hugo Ball das erste dadaistische Manifest verlas, und im Sprüngli-Haus, in dem die Dada-Galerie ihre Räume hatte, mittlerweile ein Bewusstsein für die Geschichte des Dadaismus. Und in dem für 2020 in Aussicht genommenen Erweiterungsbau des Zürcher Kunsthauses sei eine Dauerausstellung zum Thema Dada geplant.

Und wenn es nichts wird mit dem Betriebskostenzuschuss? Darauf Notz: "Der Trägerverein hat überhaupt nur wegen des anstehenden Jubiläums so lange durchgehalten. Wenn der Antrag abgelehnt wird, müssen wir uns wohl andere Berufe suchen und im Cabaret Voltaire beispielsweise ein Restaurant eröffnen." Schon die Dada-Fee Emmy Hennings schrieb in ihren Erinnerungen: "Die Dadaisten hatten meist mehr Ideen als Franken in der Tasche." Offenbar sind sie selbst 100 Jahre nach ihrer Ankunft in Zürich immer noch nicht wirklich willkommen. In der juristischen Fachbuchhandlung Schulthess, wenige Schritte vom Cabaret Voltaire entfernt, liegt derzeit aus aktuellem Anlass der Band "Migrationsrecht" im Schaukasten aus, gleich sechsfach. Eine verlässliche Bleibeperspektive fehlt auch für Dada.

© SZ vom 02.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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