Kulturkritik:Man stelle sich einen Aufsichtsrat vor

Lesezeit: 3 min

In "Sprache und Sein" denkt Kübra Gümüşay darüber nach, wie sehr, was in einer Kultur denkbar ist, davon abhängt, was in ihrer Sprache sagbar ist.

Von Susan Vahabzadeh

Sprache hat Macht, sie formt unsere Vorstellungen und unsere Gedanken. Medikamente beispielsweise werden am Menschen erprobt, bevor sie zugelassen werden, und immer noch sind unter den Testpersonen Männer überrepräsentiert, obwohl eigentlich schon lang nachgewiesen ist, dass manche Medikamente bei Männern und Frauen unterschiedlich wirken. Wäre das anders, gäbe es das Wort Mensch gar nicht, und man müsste von vorneherein sagen, ein Medikament wird an Männern und Frauen erprobt? Oder war es andersherum, und wir haben den Begriff Mensch erst im Nachhinein mit der Vorstellung erfüllt, der Normalfall des Menschen sei der Mann?

Die Bloggerin und Journalistin Kübra Gümüşay will in ihrem ersten Buch "Sprache und Sein" die Sprache als Machtinstrument erforschen: Wie prägen Begriffe unsere Erwartungen, und was hat das mit Diskriminierung zu tun, von Frauen oder Andersgläubigen oder von Menschen, die bloß ein wenig anders aussehen?

Für Kübra Gümüşay ist Deutsch die zweite Sprache, die erste ist Türkisch, und sie beschreibt sehr schön, was das für sie heißt. Es gibt Emotionen, die für sie türkische Namen haben, die sie nicht ins Deutsche übertragen kann. Die Unübersetzbarkeit mancher Begriffe ist ja tatsächlich ein schöner Beleg für die gegenseitige Abhängigkeit von Kultur und Sprache, die beispielsweise dazu führt, dass eine Gesellschaft nicht auszudrücken weiß, was sie für unaussprechlich hält.

Wenn Gümüşay loslegt, dann klingt das nach Heidegger, Herder gar; aber nein. Es geht dann sehr schnell um Narrative und nicht um Sprache; und weniger um theoretische Ansätze als um die anekdotische Sammlung von verfehlter Wahrnehmung, wie Gümüşay sie selbst erfahren hat oder erzählt bekam. V on Ärzten, die sich die falschen Ansprechpartner herauspicken, weil sie die richtigen für Personal halten, und Patienten, die sich unter einem Chirurgen keine Frau vorstellen können.

Eine Putzfrau mit Kopftuch, schreibt Gümüşay, sei kein Problem; eine Lehrerin schon

Spielt die Sprache eine Rolle, wenn man sich unter "dem Aufsichtsrat" eine Gruppe nicht mehr ganz junger Herren vorstellt? Diskriminierung von Frauen, rassistische Ausgrenzung - all das hat viel mit nicht erfüllten Erwartungen zu tun. Da gibt es ein Stereotyp, und daraus leitet sich ab, wie jemand zu sein hat und was er dann für Ansprüche stellen darf. Eine Putzfrau mit Kopftuch in der Schule, schreibt Gümüşay, sei kein Problem; eine Lehrerin schon - als sie beschreibt, wie die dritte Generation von Einwanderern nicht nur einen Platz am Tisch, sondern ein Mitgestaltungsrecht verlangt.

"Sprache und Sein" ist insgesamt ein hoffnungsvolles Buch - weil Gümüşay davon ausgeht, dass man die unterschiedlichen Erwartungen in Einklang bringen kann mit genug Erfahrungsaustausch und Erklärung. Gümüşay ist oft in Talkshows gewesen, da sollte sie dann den anderen den Islam erklären, obwohl sie ja eigentlich nur für sich selbst sprechen kann - und schon in dem Ansinnen liegt die Vermutung, alle Musliminnen seien irgendwie gleich. Die Beispiele, mit denen Gümüşay versucht zu verdeutlichen, was Verallgemeinerungen bedeuten und wie sie sich anfühlen, sind ganz schön lustig: "Weiße Politikerinnen und Politiker lügen. Sie erschwindeln sich Doktortitel."

Es gibt, so Gümüşay, Millionen Perspektiven auf die Welt. Dass eine davon dominiert, ist nicht neu - und überhaupt gibt es in "Sprache und Sein" wenig Überraschungen, bloß eine Reihe ungewohnter Perspektiven. Man lerne in Deutschland eben kein Türkisch, so Gümüşay, sondern "Prestigesprachen" wie beispielsweise Französisch, und in der Folge lernt man dann etwas über französische Literatur, aber nicht über türkische Autoren. Klar kann man das so sehen. Man kann es allerdings auch so sehen: Eigentlich sollte Französisch in Deutschland nicht eine der wichtigsten, sondern die wichtigste Fremdsprache überhaupt sein, nicht aus Prestigegründen, sondern weil Frankreich der engste Verbündete ist und gleich nebenan.

Es ist ein bisschen schade, dass Gümüşay ihre eigentliche Sprachkritik nicht ein wenig weiter verfolgt. Sie beklagt zwar, dass das Deutsche sogar Möbel und Obst nach Geschlechtern sortiert, aber sie macht sich nicht so recht auf die Suche nach einem Ausweg. Sie hat natürlich vollkommen recht, wenn sie feststellt, dass die Hürde, sich unter einem Chirurgen eine Frau vorzustellen, unendlich viel größer ist, wenn der Begriff ein Geschlecht hat. Aber das Gendersternchen, das sie selbst halbherzig verwendet, löst das Problem auch nicht in nichts auf. Und es macht das Deutsche auch nicht schöner poetischer oder emotionaler.

Die Sprache soll ein Haus für alle sein, schreibt Gümüşay, und das würde man sich ja wirklich wünschen. Aber so einen richtig gut durchdachten Bauplan hat sie dann auch nicht.

Kübra Gümüşay: Sprache und Sein. Hanser Berlin 2020, 208 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 18.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: