Palazzo Ducale:Alles wird Bild

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Das Studierzimmer in Urbino war für den dortigen Renaissancefürsten Montefeltro einst die Mitte der Welt. Zu Recht.

Von Thomas Steinfeld

Die Mitte der Welt ist ein kleines Zimmer. Es misst knapp dreizehn Quadratmeter, und man kann nicht einmal aus dem Fenster sehen, weil die Öffnung sich weit oben, über Kopfhöhe befindet. Das Zimmer liegt im äußersten Winkel eines Palastes, der hoch auf einem Berg steht und mehr als hundert Räume enthält. Um in diesen Winkel zu gelangen, muss der Besucher durch ein großes Portal schreiten, über einen säulengeschmückten Innenhof gehen, an der ehemaligen Bibliothek (eine der ersten öffentlichen Bibliotheken in Italien) vorbei und eine weite Treppe hinaufsteigen. Dann hat er einen herrlichen Saal zu durchqueren, "la sala pubblica", und auch durch den nächsten, kleineren Saal, den "salotto", muss er gehen, und je weiter er kommt, desto privater werden die Verhältnisse, scheinbar wenigstens.

Im hintersten Raum, neben der Kapelle, trifft er schließlich auf den Besitzer des ganzen Reichtums. Er ist in einen Philosophenmantel gehüllt, und seine Waffe weist zu Boden. Aber er ist nicht da, nicht leibhaftig wenigstens. Sein Bildnis ist ins Holz der Wandtäfelung geschnitten. Viel mehr braucht es nicht, damit dieses Zimmer die Mitte der Welt bildet. Denn die Mitte der Welt ist eine Welt aus Zeichen.

In das kleine Zimmer hinten im Palast passen gerade einmal Fürst, Tisch und Vorleser hinein

Das Zentrum der Welt liegt in Mittelitalien, in den Marken. Dort, in der kleinen Stadt Urbino, ließ sich der Mietkrieger Federico di Montefeltro, damals der erfolgreichste Feldherr auf der italienischen Halbinsel, zwischen den Jahren 1463 und 1472 einen Palast bauen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Wie der Fürst aussah, ist weithin bekannt, hatte ihn doch Piero della Francesca mit seinem unveränderlichen Kennzeichen gemalt, der von einer Lanze in eine eher eckige Form gebrachten Nase. Sein ganzes erwachsenes Leben lang hatte er Krieg geführt, sein Vermögen bestand aus Söldnerlohn, aber die militärischen Einrichtungen des neuen Hauses sind Fassade. Es zitiert sie allenfalls, als Ausdruck überlegenen Wissens. Selbst die Türme dienen nicht mehr der Verteidigung, sondern sind ein Schmuck, der den Verzicht auf das Militärische inszeniert. Das Zentrum dieses Palastes aber ist das "studiolo", eben jenes kleine Zimmer im äußersten Winkel der Anlage. Es eignet sich jedoch kaum zum Studieren, es passen Fürst, Tisch und Vorleser gerade hinein. Doch ließ sich der Herzog darin sein Bildungsprogramm darlegen. Und dieses hätte größer nicht ausfallen können.

Achtundzwanzig Bildnisse von Gelehrten hängen im oberen Drittel der Kammer, in Öl auf Holz gemalt von Joos van Wassenhove (überarbeitet von Pedro Berruguete), und gemeinsam schauen sie aus ihren Studierzimmern auf den Betrachter herab: Homer und Petrarca, Platon und Euklid, Augustinus und Papst Pius II., sie alle sind hier in luftiger Höhe versammelt. Das heißt: Von den ursprünglich achtundzwanzig Porträts befinden sich seit fast vierhundert Jahren nur noch die eine Hälfte an den Wänden des "studiolo". Die andere Hälfte wurde durch Kopien in Grisaille ersetzt, denn die Originale waren auf Wanderschaft gegangen, nachdem die Familie Montefeltro erloschen war und auch ihre Nachfolger keine Erben hervorgebracht hatten. Das Fürstentum Urbino, ein päpstliches Lehen, fiel an den Kirchenstaat zurück, die Bilder gerieten später in die Sammlung des Kardinals Fesch, in den Bankrott des Kunsthändlers Giampietro Campana und schließlich in den Besitz Kaiser Napoleons III., der sie dann dem Louvre überließ. Von dort wurden sie jetzt für nur eine Ausstellung nach Urbino gebracht. "Il ritorno degli Uomini Illustri alla Corte di Urbino" heißt diese Schau daher, "die Rückkehr der berühmten Männer an den Hof von Urbino".

Die Ausstellung kommt mit einem Pathos daher, als ginge es nicht nur um vierzehn Bilder, sondern um die ganze Renaissance in Urbino. Das ist nicht falsch: Denn die symbolische Bedeutung dieser Rückkehr ist größer als die praktische. Die Porträts hingen ja im "studiolo" als Teil eines Programms (weshalb die in großen Lettern dargebotenen Namen der Porträtierten mindestens genauso wichtig sind wie ihre Gesichtszüge), und es hätte dieses Programm nicht gegeben, hätte sich Federico de Montefeltro, der Herr und Besitzer der Gemälde, nicht den "berühmten Männern" der Vergangenheit gegenüber als mindestens Gleichwertiger verstanden, als der Neunundzwanzigste in dieser Reihe. Mit der Zerschlagung der Reihe und dem fortgesetzten Verkauf einzelner Bilder aber verlor das Programm seine praktische Geltung. Aus Kultur wurde Kunst und Markt, und das ist in diesem Fall ein Unterschied ums Ganze.

In "Die Nase Italiens", einem Buch aus dem Jahr 2005, erklären Bernd Roeck und Andreas Tönnesmann, Historiker und Kunsthistoriker aus Zürich, das gewaltige Projekt des Herrn von Urbino mit politischen und biografischen Motiven. Da ist zum einen die illegitime Herkunft des Fürsten, zum zweiten der Mord am Halbbruder, dem bis dahin regierenden Grafen von Urbino, und beides befleckte seinen Ruhm. Zum dritten aber ist Urbino ein kleiner Staat ohne Glanz, und es bedurfte einer gewaltigen Anstrengung, um ihm Geltung und Federico de Montefeltre die Herzogwürde zu verschaffen (was gelang).

Das Mittel dazu ist die kulturelle Repräsentation: humanistische Rhetorik, moderne Wissenschaft, schöne Künste. Urbino, so wie Federico de Montefeltro diese Stadt gestaltete, ist eines der frühen Beispiele von frühmoderner Kulturpolitik, einer erfolgreichen zumal. Urbino sollte die Stadt (nicht die Residenz) eines buchstäblich "urbanen" gebildeten und zivilen Herrschers werden, weswegen es notwendig war, die bekanntesten Künstler und Architekten jener Zeit an diesen kleinen, abgelegenen Hof zu binden, wenigstens als Berater (wie den Humanisten und Baumeister Leon Battista Alberti). An diesem Ort sollte sich ein städtischer Frieden manifestieren, in dem die gesamte abendländische Bildungsgeschichte aufgehoben sein sollte, in ihrer Tradition, aber auch, zumindest was Mathematik, Technik und Architektur betraf, in ihrer modernsten Ausprägung.

Piero della Francescas Bildnis des Fürsten Montefeltro. (Foto: imago/Leemage)

Deswegen ist dieses Projekt auch mehr als Politik und Biografie: Denn wenn Federico di Montefeltro den Palast als ästhetisches Gemeinwesen gestaltet, wenn er die Stadt, den Markt und die Landschaft einem Bildungsprogramm unterwirft, wenn er die größten Denker vergangener Zeiten zu sich an den Hof ruft - dann geschieht das nicht nur, weil er einen realen oder auch nur eingebildeten Mangel an Bedeutung ausgleichen will, sondern weil eine neue Welt in diesem Programm Gestalt nimmt: eine Gesellschaft nämlich, in der alles aufeinander bezogen ist, ein Staat, in dem es kein ungebundenes Element mehr gibt, ein modernes, auf Geldwirtschaft und Politik gegründetes Gemeinwesen.

Aus demselben Grund besaß eine der wichtigsten technischen Errungenschaften in der Malerei der Renaissance, die Zentralperspektive, eine so große Bedeutung für Urbino, erkennbar etwa in der Bindung des Malers Piero della Francesca an diesen Hof, aber auch in Gestalt der vielen fiktiven Aus- und Durchblicke im Holz des "studiolo". Es ist dieses Projekt eines vollendet zivilen Gemeinwesens, das in den italienischen Kleinstädten des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts zu bestaunen ist, in Pienza, in Mantua oder eben in Urbino.

Es gibt also einen Grund dafür, dass die Mitte der Welt sehr klein ist und in einem fernen Winkel des Palastes liegt. Denn der vereinheitlichende Sinn ist in diesem Palast überall gegenwärtig, er braucht daneben keine in großem Stil repräsentative Sphäre für sich selbst. Getäfelt ist das "studiolo", weil hier eine Intimität inszeniert wird.

Der in das Holz gearbeitete Bildschmuck illustriert Federico de Montefeltros Interessen als die eines privaten Menschen: In fiktiven Regalen sind fiktive Bücher kreuz und quer übereinander gestapelt, einige sind aufgeschlagen, andere mit Notizzetteln versehen, dazwischen liegen eine Laute und Flöten, astronomische Instrumente, das Schwert lehnt an der Wand. Und wenn es sich bei all diesen Bildern nicht um Gemälde, sondern um Intarsien handelt, dann ist auch dies ein Zeichen: dafür, dass es sich hier zwar einerseits um eine ebenso teure wie hochkultivierte Spielerei handelt, diese aber andererseits einen hohen Zweck erfüllt: nämlich die Grenzen in Raum und Zeit gleichsam verschwinden zu lassen. Aus der Kammer hinaus führt eine kurze Passage auf den Balkon, und von dort geht der Blick hinaus über die Hügel und Täler der Marken in Richtung Osten. "Der ganze Besitz des Herrschers, Land und Stadt, Zufahrtsstraße und Marktplatz, erklärt Andreas Tönnesmann, "bietet sich in gestaffelter Perspektive dem Auge dar. Alles fügt sich zu einem Bild, das die Wirklichkeit umgreift und zugleich ästhetisch überhöht." Das wichtigste Wort in diesem Satz lautet: "alles".

Dieser Text erschien bereits im April 2015 anlässlich der Wiedereröffnung des Studierzimmers im Palazzo Ducale in Urbino.

© SZ vom 01.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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