Die treiben es ja ganz schön bunt hier. Kommt das wieder weg oder ist das, äh, Kunst? Die ehemalige Stadtbibliothek von Jesenik ist nicht wiederzuerkennen: Gelbe, rote, grüne Bahnen verdecken die klassizistische Villa. Die Münchner Architekten Thomas Gerstmeir und Merian Teutsch haben einfach die alten Teppiche der Bücherei in Streifen geschnitten und nach draußen gehängt. "Ein Umstandskleid" sei das, sagt Gerstmeir, es handle sich hier ja schließlich um "ein Haus in anderen Umständen".
Dass ihre alte Stadtbibliothek sich stark verändert, war für die Bürger des tschechischen Städtchens Jesenik, das auf Deutsch einst Freiwaldau hieß, in den vergangenen Wochen nicht zu übersehen. Neugierig die einen, kopfschüttelnd die anderen, verfolgten sie die Verwandlung des Gebäudes an der Hauptstraße. Es war nur eine erste, vorübergehende Verwandlung: Das neu eingekleidete Haus wurde für drei Tage zum Mittelpunkt eines Kulturfestivals der besonderen Art. Und das Haus war dabei nur das offensichtlichste Symbol dafür, dass man mit Kunst, Literatur und Musik einiges in Bewegung bringen kann.
In Bewegung gesetzt haben sich für das Festival "Im Zentrum" am vergangenen Wochenende dabei neben einheimischen Künstlern auch erstaunlich viele bayerische. Warum etliche Münchner Kulturschaffende - von Lucia Dellefant über Christiane Pfau bis Isolde Ohlbaum - eine strapaziöse Autofahrt von sieben Stunden auf sich nahmen, um bei einem 622 Kilometer entfernten Festival im Altvatergebirge an der tschechisch-polnischen Grenze mitzuwirken? Das ist eine längere Geschichte, und sie ist ziemlich kompliziert.
Der wichtigste Grund aber ist einfach: "Weil's Spaß macht", sagt Gerstmeir. Außerdem habe er schon ein "bissel Bezug" zu der Gegend hier, durch das Essen zum Beispiel: "Die Gebäckstücke hier kenne ich von der Oma", sagt der Architekt. Auch der in Tschechien häufige Rinderbraten mit Sahnesoße ist ihm aus der Kindheit vertraut. Gerstmeirs Großmutter mit Kindern wurde nach 1945 aus dieser Region vertrieben, die damals zum sogenannten Sudetenland gehörte. Als Kind habe er die Geschichten über die Vertreibung "nicht mehr hören können", sagt er. Nun nähert er sich dem Thema und der Region auf eine andere Art an: über die Kunst.
Das macht die Münchner Fotografin Isolde Ohlbaum in ihren Bildern schon seit Jahrzehnten. Immer wieder hat sie bedeutende tschechische Schriftsteller wie Václav Havel, Libuše Moníková oder Pavel Kohout abgelichtet; in Jesenik zeigte sie im Festival-Haus in zwei Räumen eine Auswahl. Dabei hat sie ihre eigene Herkunft, die eigenen Eltern immer auf Abstand gehalten. Ihr Vater stammte aus dem Dorf Niederlindewiese bei Jesenik, die Mutter aus Liberec, auf Deutsch Reichenberg. Isolde Ohlbaum interessierte sich wenig für diese Wurzeln, reiste auch nie mit dem Vater in seine alte Heimat. Warum? Die Gründe, die Ohlbaum nennt, hört man immer wieder, wenn man sich mit Künstlern und Besuchern des Festivals unterhält. Und immer schwingt Bedauern mit.
Da ist zum einen das "alte Problem", wie Ohlbaum sagt, "dass man sich erst, wenn die Eltern gestorben sind, für die Vergangenheit interessiert". Sie sei früher zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt gewesen, sagt die Fotografin. Zum anderen fand sie - auch darin kein Einzelfall - die sudetendeutschen Verbände problematisch. Ihr Vater Rudolf sei Stammgast im Sudetendeutschen Haus in München gewesen, erzählt sie. Radikal in seinen Ansichten sei er jedoch nicht gewesen, sondern "ein Vermittler", der als Publizist viel zur Versöhnung geschrieben habe.
Nach seinem Tod 2006 hat Isolde Ohlbaum seine Tagebücher entdeckt, vor allem aus dem Krieg. "Da hätte ich natürlich noch manche Frage gehabt - zu spät." Es bleibt "dieses Gefühl, dass man eigentlich etwas versäumt hat". Dass Ohlbaum nach einem ersten Besuch vor vier Jahren diesmal mit Bruder, Schwester, Neffe angereist ist - auch das ist hochsymbolisch. Zusammen sind sie am einstigen Wohnhaus des Vaters vorbeigegangen, "mit gebührendem Abstand", wie Ohlbaum betont. "Vielleicht kehrt man doch zu irgendwelchen Wurzeln zurück", sagt sie, mit einem kleinen Lachen, das etwas skeptisch klingt, vielleicht auch nur verwundert.
Bei der Kuratorin Serafine Lindemann ist weniger Skepsis zu spüren. Schon oft war sie unterwegs mit ihrer inzwischen hundertjährigen Mutter, die aus einem Dorf in der Altvaterregion stammt. Als Glücksfall darf man dabei wohl bezeichnen, dass sich vor einigen Jahren die Wege der Münchnerin Lindemann und der jungen Kulturvermittlerin Zdeňka Morávková kreuzten, die aus Prag nach Jesenik gezogen war. Dass beide zusammen nun schon zum vierten Mal ein Festival in dieser übrigens berückend schönen Gebirgsregion organisiert haben, ist alles andere als selbstverständlich. Die Wunden der Geschichte sind tief; es litten die Tschechen nach der Besetzung durch Hitlers Wehrmacht 1938 unter nationalsozialistischem Terror und Krieg, es litten nach 1945 die vertriebenen Deutschen; so viel Gewalt, so viele Traumata.
Doch es sind Jahrzehnte vergangen seither, und in beiden Ländern beginnen nachfolgende Generationen, sich wieder vorbehaltloser füreinander zu interessieren. "Seit 2014 ist eine Offenheit zu spüren", sagt die Festival-Kuratorin Lindemann, "dass ich das so spannend finde, ist mein Motor." Das Projekt sei "herzerwärmend", findet sie: "Hier erleben wir Geschichte - was wir sonst nur lesen." Angetrieben wird ihr Motor natürlich auch durch die eigene Biografie: Ihre Mutter Hertha hat nach der Vertreibung früh wieder den Kontakt zur alten Heimat gesucht; sie hat im Rahmen der Festivals als Zeitzeugin an Schulen gesprochen und ein Buch des Jeseniker Illustrators Filip Raif inspiriert - sogar einen Raum im Festival-Haus hat er ihr zu Ehren ausgemalt. "Freiwillig!", wie die Kuratorin betont; sie habe diesen Raum, in dem auch ein Dokumentarfilm über ihre Mutter gezeigt wird, nicht selbst angeregt.
Doch es sind ja eben nicht nur die Deutschen, die hier nach ihren Wurzeln suchen. Auch jüngere Tschechen wollen mehr über die Geschichte wissen, die "des Gebiets oder ihres Hauses", bestätigt Bohumila Tinzová. Die Stadtarchivarin ist so etwas wie das lebendige Gedächtnis Jeseniks, und mit dem Thema Leerstellen kennt sie sich aus: Die heute 60-Jährige wusste bis zum Teenageralter nicht, dass ihr Vater Deutscher ist - zu Zeiten des Kommunismus war es besser, darüber zu schweigen.
Die Historikerin hat von den vielen Facetten der Geschichte erst nach der samtenen Revolution 1989 erfahren. Sie hat als städtische Ansprechpartnerin auch viele Vertriebene kennengelernt: "Ihre Geschichten waren für mich die zweite Seite einer Medaille." Verständnis hat die Archivarin für beide Seiten. Und sie ist froh über all die guten und immer besser funktionierenden Verbindungen, ob mit der bayerischen Partnerstadt Neuburg an der Donau oder dem Kulturfestival, für das Tinzová zusammen mit dem Münchner Frank Sauer eine Hör- und Fotoinstallation erarbeitet hat. Im Übrigen stellt sie mal klar, dass man hier ja nicht am Ende der Welt sei: "Wir wohnen am Anfang der Welt!" Man könnte auch sagen: im Zentrum.
Im Zentrum der Welt also konnte man bei diesem Festival zum Beispiel ein sehr lustig-kluges Kabarett über deutsch-tschechische Identitätswirren erleben ("Cit und Gefühl" - am 23. Oktober auch in der Pasinger Fabrik in München). Man meditierte im Festival-Haus über den neuen Film des Münchner Künstlerduos Gaeg alias Wolfgang Aichner und Thomas Huber: Sie machten mitsamt einem Riesen-Schreibstift eine absurde Reise durch Amerika, um dem Land neue Grenzen einzuschreiben (vom 4. bis 6. Oktober auch in der Münchner Rathausgalerie zu sehen). Man konnte die Ergebnisse eines grenzüberschreitenden Medienworkshops mit Schülern aus Jesenik und Lappersdorf bei Regensburg studieren; renommierte Schriftsteller wie Jaromír Typlt und Kateřina Tučková reisten an, und der perfekt zweisprachige Schriftsteller Jaroslav Rudiš las nicht nur aus einem neuen Sauna-Roman, sondern zog mit einem Konzert seiner Kafka Band - deren Sänger Jaromír 99 übrigens aus dem Altvatergebiet stammt - viele seiner Fans nach Jesenik.
Das Festival dehnt sich mit jedem Jahr mehr aus, sprengt Grenzen. Und es hinterlässt neben den unsichtbaren auch sichtbare Spuren, zum Beispiel eine zum Sitzen einladende Installation der tschechischen Künstlergruppe Rez nahe dem Festival-Haus. Überhaupt, das Haus: Was soll nun aus der alten Bibliothek werden? Die Teppiche können ja nicht ewig hängen bleiben. Um Antworten auf diese Frage zu bekommen, zog die Münchner Künstlerin Lucia Dellefant zwei Tage durch die Straßen, mit einem Wägelchen und einem Übersetzer. Bei ihrem partizipativen Projekt sollten die Bürger ihre Meinung sagen; die Älteren hätten wenig Bereitschaft zur Initiative gezeigt, erzählt Dellefant, dafür kamen von Jüngeren gleich ein paar Ideen. Ob das Teppich-Haus künftig als Ausstellungsraum oder Mütter-Treff dienen soll, darüber können alle Bürger demnächst abstimmen.
Lucia Dellefant findet solche Prozesse spannend, das ganze Festival lebt für sie "durch die Menschen". Die Künstlerin war schon mehrmals dabei und sicher nicht zum letzten Mal. Dabei hat sie selbst keine familiären Beziehungen hierher, und der Vergangenheitsaspekt ist ihr auch nicht so wichtig. Dellefant ist vielmehr beeindruckt vom Aufbruch der Jungen in Jesenik, "unglaublich" findet sie deren Energie. "Ich will mit denen in die Zukunft gehen", sagt sie. Von Haus zu Haus.