Kultur in Ägypten:Darauf ein Glas Nilwasser

Lesezeit: 5 min

In Ägypten werden scharenweise Schriftsteller, Sängerinnen, Homosexuelle wegen vermeintlicher Verstöße gegen Moral und Vaterlandliebe verurteilt. Islamische und christliche Würdenträger finden das ganz gut so.

Von Paul-Anton Krüger

Die Anspielungen in Shymas Video sind unmissverständlich. Die 25-jährige Sängerin leckt an einem Apfel, simuliert mit einer Banane Oralverkehr. Auf der Tafel im Klassenraum, in dem der Clip spielt, steht "class vag" und "#69" geschrieben. Andere Szene: Schaimaa Ahmed, wie sie richtig heißt, rekelt sich in Unterwäsche vor jungen Männern mit Bauarbeiterhelmen.

Was anderswo Geschmacksfragen sind, ist in Shymas Heimat Ägypten inzwischen ein Fall für die Justiz. Ein Richter verurteilte sie zu zwei Jahren Haft, wegen Anstachelung zu öffentlicher Unzucht. Es ist einer jener sehr dehnbaren Paragrafen im ägyptischen Strafrecht, mit denen die Justiz gegen Künstler, Homosexuelle und andere Gruppen vorgeht, die es wagen, die konservativen Moralvorstellungen infrage zu stellen. Ohnehin muss jeder, der unbequeme Wahrheiten ausspricht, mit Dreh- und Aufführungsverboten rechnen, mit Geld- oder Gefängnisstrafen. Kurz vor dem Prozess gegen Shyma war die Fernsehmoderatorin Doaa Salah zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Sie war in ihrer Talkshow mit ausgestopftem Schwangerenbauch aufgetreten und hatte über selbstbestimmte Sexualität von Frauen gesprochen und darüber, wie sie außerhalb der Ehe Kinder bekommen können. Salah habe den öffentlichen Anstand verletzt, so der Vorwurf.

Der Autor Ahmed Nagy, einer der begabtesten jungen Schriftsteller Ägyptens, wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil sein Roman "Der Gebrauch des Lebens" eine Sex-Szene enthielt. Die Zensur hatte das Buch nicht beanstandet, auch nicht den Nachdruck der Passage in der staatlichen Literaturzeitschrift Akhbar al-Adab.

In allen diesen Fällen ignorierten die Gerichte den in der Verfassung garantierten Schutz der Kunst und der Meinungsfreiheit. Sie werden bejubelt und aufgehetzt von konservativen TV-Moderatoren, die in der ohnehin weitgehend gleichgeschalteten Medienlandschaft die öffentliche Meinung dominieren.

Ein Rechtsanwalt rief in einer Fernsehsendung ungestraft dazu auf, Frauen zu vergewaltigen

Strafwürdig fand ein Kairoer Gericht etwa auch die Darbietung der Bauchtänzerin Safinaz: Sie ließ ihre Hüften zu einem patriotischen Lied in einem rot-weiß-schwarzen Kleid kreisen, den Nationalfarben Ägyptens. Die Folge: Sechs Monate Haft für die "Herabwürdigung der Flagge". Zwei weitere Tänzerinnen wurden wegen Anstachelung zur Unzucht angezeigt. Suha Mohammed Ali und Dalia Kamal Youssef - bekannt unter den Künstlernamen Egyptian Shakira und Bardis - wurden ebenfalls zu je sechs Monaten Haft verurteilt, weil sie die "öffentliche Moral" verletzten und "das Bild der ägyptischen Frau herabwürdigten", wie Richter befanden. Ebenso erging es ihrer Kollegin Salma el-Fouly, die in einem Video - knapp bekleidet - über männliche Grapscher spottete.

Die "Me Too"-Debatte verläuft in Ägypten ohnehin bizarr verzerrt, um nicht zu sagen: gegenläufig. Ein Rechtsanwalt, der in einer Fernsehshow dazu aufgerufen hatte, Frauen sexuell zu belästigen oder sogar zu vergewaltigen, wenn sie sich "unzüchtig" kleiden, blieb monatelang unbehelligt. Es sei "eine patriotische und nationale Pflicht" eines jeden Mannes, so auf zerrissene Jeans zu reagieren, sagte Nabih al-Wahsch. In einem Land, in dem der Staat es seit einiger Zeit zu seiner Aufgabe erklärt hat, gegen die weitverbreitete sexuelle Belästigung vorzugehen, war dies immerhin der klare Aufruf zu einer Straftat. Gewiss, Al-Wahsch ist ein berüchtigter Irrer, der sich selbst als stolzen Antisemiten bezeichnet, den Holocaust leugnet und im vergangenen Jahr vor laufenden Kameras auf einen islamischen Geistlichen losging, weil dieser gesagt hatte, Frauen müssten nicht unbedingt eine Kopftuch tragen. Dennoch boten ihm die Sender weiter eine Bühne. Erst nach hartnäckigen Protesten von Frauenorganisationen leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein.

Eine regelrechte Hetzjagd auf Schwule starteten die ägyptischen Behörden nach einem Konzert der libanesischen Indie-Band Mashrou' Leila Ende September in Kairo. 35 000 Zuschauer feierten den offen schwulen Sänger Hamed Sinno und seine Kollegen für die Show auf einem der wenigen noch erlaubten Festivals. Bei Mashrou' Leila nun wagten es einige wenige, Regenbogen-Flaggen zu schwenken, seit Jahrzehnten weltweit eine Solidaritätsbekundung mit der Lesben- und Schwulenbewegung. Wieder folgte der Aufschrei konservativer Talkshow-Moderatoren.

Daraufhin ordnete Generalstaatsanwalt Nabil Sadek, eigentlich zuständig für staatsgefährdende Delikte wie Terroranschläge, Ermittlungen an. Zunächst verhaftete die Polizei sieben Menschen, denen sie "Werbung für Homosexualität" und Anstachelung zur Unzucht vorwarfen, dabei ist Homosexualität in Ägypten nicht strafbar. Dennoch mussten sich die Männer demütigende Untersuchungen durch Amtsärzte gefallen lassen. Ein Student wurde von Polizisten mit einer Dating-App zu einem Treffen gelockt und anschließend zu sechs Jahren Haft verurteilt, eine beliebte Polizeitaktik im Spitzelstaat von Präsident Abdel Fattah al-Sisi. Mehr als zwei Dutzend der Verfahren endeten mit Haftstrafen.

Der Großimam der Al-Ashar-Universität, Scheich Ahmed al-Tajjeb, von der ägyptischen Regierung als Vorreiter eines toleranten Islam vermarktet, im Bundestag und von Kanzlerin Angela Merkel als solcher hofiert, wetterte auf einer internationalen Konferenz gegen "Aufrufe, Homosexualität als Menschenrecht zu erlauben". Dies sei unverschämt und "östlichen Männern völlig fremd". Auch die Gleichberechtigung von Frauen sei abzulehnen. Die koptische Kirche unter Papst Tawadros II. ist in diesen Fragen nicht weniger reaktionär, große Teile der Gesellschaft allerdings ebenso. So oft die Ägypter auch über das Versagen der Behörden klagen: Wenn der Staat gegen Homosexuelle vorgeht, ist er sich des Beifalls sicher.

Am Kino fragten Polizisten die Zuschauer, ob sie wüssten, dass der Film "die Polizei beleidige"

Aber auch, wer nur Missstände anprangert oder die Ägypter daran erinnert, dass sie einmal für etwas Besseres gekämpft haben als ein repressives, vom Militär dominiertes Regime, bekommt die harte Hand des Staates zu spüren: Der Film "In den letzten Tagen der Stadt", eine Liebeserklärung des ägyptischen Regisseurs Tamer el-Said an seine Heimatstadt Kairo, hat elf internationale Preise gewonnen und wurde auf mehr als 90 Festivals gezeigt. Halb dokumentarisch, halb Spielfilm, trifft das Werk den Nerv eines jeden, der in dieser Stadt gelebt hat. Der Film spielt in der heruntergekommenen Innenstadt in den Jahren vor dem Aufstand auf dem Tahrir-Platz: der Luxus der wenigen, das Elend der vielen, die Lähmung, die Wut. Aber an dieses Gefühl zu erinnern, ist der Zensur schon zu viel der Subversion. Die Ägypter durften den Film nicht sehen.

Verboten ist auch eine weitere spektakuläre Produktion, "Die Nile Hilton Affäre" des schwedisch-ägyptischen Regisseurs Tarik Saleh, die im Oktober in die deutschen Kinos kam. Einst galt Ägypten als Mutterland des arabischen Kinos, diesmal musste Saleh für die Dreharbeiten nach Marokko ausweichen. Auch sein Film spielt kurz vor der Revolution 2011 und zeigt überdies die Korruption in der Polizei, einen der Gründe für den Aufstand gegen Mubarak und seine Schergen.

Nachdem das Regime erst erzwungen hatte, dass der Thriller vom Programm eines Filmfestes in Ägypten gestrichen wurde, verhinderte die Polizei jüngst zudem eine Vorführung in einem alternativen Kulturzentrum in Kairo. Polizisten lauerten den Besuchern am Eingang auf und kontrollierten die Ausweise und befragten sie: Ob ihnen bekannt sei, dass der Film "die Polizei beleidige"?

Im patriotisch paranoiden Ägypten ist vieles verdächtig, auch der gesunde Menschenverstand. Die Sängerin Sherine Abdel Wahab, eine der bekanntesten des Landes, wurde während eines Konzerts in den Vereinigten Arabischen Emiraten von Fans aufgefordert, ihr Lied "Maschribtisch min Nilha?" zu singen. Auf Deutsch: "Hast du aus dem Nil getrunken?" Es ist ein patriotischer Song, der die Liebe zum Nil und die Liebe zu Ägypten besingt. Doch diesmal erlaubte die Sängerin sich einen Scherz. "Lieber nicht", entgegnete sie den Fans: "Ihr könntet Bilharziose bekommen. Trinkt Evian, das ist besser."

Bilharziose ist eine Krankheit, die von Parasiten in warmem, verschmutzen Süßwasser verursacht wird, wie dem Nilwasser. In Ägypten betrifft das noch heute Millionen - besonders hoch ist das Risiko einer Ansteckung im Delta, im Niltal und in den Nebenflüssen.

Der Musikerverband, der immer schnell reagiert, wenn er sich dem Regime anheischig erweisen kann, erließ umgehend ein Auftrittsverbot gegen Sherine Abdel-Wahab wegen "Beleidigung unseres geliebten Ägypten". Die Sängerin entschuldigte sich für ihren "idiotischen Witz". Umsonst. An diesem Freitag steht sie vor Gericht. Wegen Beleidigung des ägyptischen Staates und ähnlich absurder Delikte muss sie mindestens in erster Instanz mit einer mehrjährigen Haftstrafe rechnen.

© SZ vom 22.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: