Kurzgeschichten von Kristen Roupenian:Umstrittene Augenblicke

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Kristen Roupenian: Milk Wishes. Aus dem Englischen von Nella Beljan. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 80 Seiten, 12 Euro. (Foto: N/A)

Eines der großen Themen unserer Zeit: Die Kurzgeschichten in Kristen Roupenians schmalem Band "Milk Wishes" drehen sich um individuelle Perspektiven, die miteinander unvereinbar sind.

Von Susan Vahabzadeh

Die Erinnerung ist ein merkwürdiges Ding. Ein charmantes Biest, könnte man sagen. Weißt du noch, schmeichelt sie, und flüstert: Ich weiß es noch ganz genau. Aber man kann sich nicht auf sie verlassen, denn es kann sein, dass sie lügt und betrügt.

Ryan, in dessen Kopf sich Kristen Roupenians Kurzgeschichte "Milkwishes" abspielt, ist zu seiner Mutter gefahren, ihr erster Geburtstag nach dem Tod des Vaters, es soll ein besonders schöner Tag werden. Ganz beiläufig kommen sie auf die Geschichte mit dem kleinen Mädchen. Ryan ist inzwischen Mitte dreißig, und seit seiner Kindheit spukt das kleine Mädchen in seinem Kopf herum, dessen Namen er schon lange vergessen hat. Die blasse Erinnerung an eine Spielgefährtin mit einer Narbe am Auge, die ertrunken ist, als sie so etwa fünf Jahre alt war. Milkwishes nennt er sie, denn so nannte sie Pusteblumen, Löwenzahnsamen. Und wann immer er Löwenzahn denkt oder Wunsch, also fast jeden Tag, flackert kurz das Bild vor ihm auf von dem Mädchen.

Kristen Roupenian schaut in Ryan hinein und entdeckt dort verhakte Erinnerungen, ein prägendes Ereignis, das es so nie gegeben hat, und allerhand perspektivische Besonderheiten; wie er, beispielsweise, die Familientradition des Alkoholismus wahrnimmt, als hätten alle seine Ahnen einen Leberfleck an derselben Stelle gehabt.

Alle Geschichten kreisen um unvereinbare Perspektiven

"Milkwishes" ist ein schmaler Band mit drei Kurzgeschichten - es sind drei unaufgeregte Bewusstseinsströme, und in allen geht es um einen umstrittenen Augenblick. Der Schreckensmoment, den die Kinder in "Was wir in den Sommerferien gemacht haben" ihren Eltern bereiten und für den sie Vergeltung erdulden müssen, ist noch vergleichsweise harmlos, obwohl man auch da den Verdacht hat, dass sie alle später ihren Therapeuten davon erzählen werden. Schlimmer trifft es Tara und Aaron in "Totenwache". Die beiden haben ein Kind verloren, die Umstände findet man nach und nach heraus.

Der Verlust hat Tara krank gemacht, sie hat fürchterliche Albträume, und Aaron kann seiner Frau nicht helfen, weil sie in einer Vorstellung gefangen ist, zu der er keinen Zugang hat. Er hat sich in einem entscheidenden Augenblick nicht in sie hineinfühlen können, das lässt sich nicht rückgängig machen. Niemand kann hier helfen - weil ihr keiner dahin folgen kann, wo sie ist. Und so zirkulieren alle drei Geschichten um sehr individuelle, unvereinbare Gewichtungen und Perspektiven.

Kristen Roupenian machte mit einer einzelnen Kurzgeschichte Furore, noch bevor sie einem Verlag ein ganzes Buch verkaufen konnte: "Cat Person" erschien Ende 2017 im New Yorker, auf der Höhe der "Me Too"-Debatte, und ging von dort aus um die Welt. Sie beschrieb darin die Beziehung einer jungen Studentin zu einem wesentlich älteren Mann, und sie traf sehr genau das Gefühl des Bedrängtseins, das Ungleichgewicht im Verhältnis zu einem Mann, der irgendwie meint, die Macht sei mit ihm, und den Verlust dieser Macht dann auch nicht verkraftet. Ihre Protagonistin nimmt hin, beobachtet, fühlt sich unwohl und unternimmt doch nichts, bis eine Freundin das für sie erledigt. Eine großartige Geschichte - sie machte Roupenian zur Senkrechtstarterin im Literaturbetrieb.

Roupenian entwickelt sich nicht zur Fachfrau für Genderfragen

War jetzt diese Kurzgeschichte, die übers Netz zu einem großen Publikum fand, ein Zufallserfolg - ein beliebiges Stück Prosa, dem nicht allzu viel Beachtung zuteil geworden wäre, hätte es nicht ein paar Wochen vor der Veröffentlichung diesen Weinstein-Skandal gegeben? Oder war diese Kurzgeschichte so passend, weil Roupenian die Stimme der Millennials ist? "Cat Person" ist dann mit einer Reihe anderer Kurzgeschichten erschienen, die ein bisschen in dieselbe Richtung zielten. Und es ist ganz gut, dass die neuen Geschichten in "Milkwishes" zwar wie "Cat Person" irgendwie um Wahrnehmung kreisen, sich Kristen Roupenian aber nicht zur Fachfrau für die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern entwickelt.

Kristen Roupenian ist vielleicht weniger die Stimme einer bestimmten Generation als vielmehr eine junge Schriftstellerin, die sehr gut darin ist, gesellschaftliche Schwingungen aufzunehmen und zu verarbeiten. "Cat Person" und die drei Geschichten in "Milkwishes" lesen sich, als hätte sie ihr Thema langsam und vorsichtig eingekreist: den Graben zwischen den Blicken zweier unterschiedlicher Menschen auf denselben Vorgang, denselben Augenblick. Und das ist vielleicht tatsächlich eines der wichtigsten Phänomene unserer Zeit.

© SZ vom 13.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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