Krimi-Kolumne:Jason Starr in der Savage Lane

Lesezeit: 3 min

Die Obsessionen der einen sind die Albträume der anderen: Bei Jason Starr und seinem Buch "Phantasien" sind es New Yorker Männer, die sich ihre Wunschbeziehungen herbeifantasieren.

Von Christian Mayer

Mark und Deb Berman wohnen am Ende einer Sackgasse namens Savage Lane, in einem jener wohlhabenden Vororte von New York, in denen es die Frauen nicht nötig haben, selbst Geld zu verdienen. Er arbeitet bis spät am Abend als Systemanalytiker bei einer Bank in Manhattan, sie hält das Haus in Schuss und kutschiert die 16-jährige Tochter und den 12-jährigen Sohn zur Schule und ins Schwimmtraining, selbst wenn sie gerade mal wieder ein wenig zu viel getrunken hat. Das könnte der Anfang sein, der Ausgangspunkt einer Geschichte, die davon erzählt, wie sich ein Paar auseinanderlebt, wie erst die Langeweile einzieht, dann die Lieblosigkeit, das Misstrauen und der Hass. Aber dieser Autor ist kein Freund des langsamen, beiläufigen Erzählens, der 48-jährige New Yorker Jason Starr scheint es immer recht eilig zu haben. Deshalb hat die Ehefrau gleich am Anfang des Buches nicht nur eine Affäre mit dem 18-jährigen Owen, sie hat im Grunde schon fast damit abgeschlossen. Ihr Ehemann, der sonst gar keine Interessen hat, ist gerade im Begriff, sich zu verlieren: Er interessiert sich nur noch für die attraktive Nachbarin Karen, die als durchtrainierte Single-Mutter die Online-Partnerbörsen durchforstet.

"Phantasien" heißt der neue Krimi von Jason Starr in der deutschen Übersetzung, das klingt etwas harmloser als das amerikanische Original "Savage Lane". Schon in F. Scott Fitzgeralds Roman "The Great Gatsby" plagen den Erzähler Nick genau diese grausam-grotesken Vorstellungen, die "savage frightening dreams". Die Obsessionen der einen sind die Albträume der anderen.

Bei Starr sind es die Männer, die sich ihre Wunschbeziehungen herbeifantasieren. Mark, der Systemanalytiker ohne Menschenverstand, interpretiert jede banale SMS seiner Nachbarin als Liebesbeweis und spürt irgendwann gar nicht mehr, wenn er immer neue Grenzen überschreitet. Bei Owen, der davon besessen ist, seine mehr als doppelt so alte Geliebte dauerhaft zu unterwerfen, ist der Realitätsverlust bereits pathologisch und eine Kompensation für die Brutalität und Lieblosigkeit in seiner eigenen Familie.

Jason Starr: Phantasien. Roman. Aus dem Englischen von Hans M. Herzog. Diogenes Verlag, Zürich 2015. 400 Seiten, 16 Euro. E-Book 13,99 Euro. (Foto: N/A)

Schon in seinem 2007 erschienenen Psychothriller "Stalking" beschäftigte sich Jason Starr mit einem jungen Mann, der sich mit brutalen Mitteln das Vertrauen einer Frau erschleicht, die er besitzen, nicht lieben will: ein Überwältigungsversuch, der allerdings noch überwiegend in der analogen Welt spielte. In "Phantasien" hat das Digitale längst die Übermacht über alle Lebensbereiche gewonnen; das Smartphone ist der Schlüssel zum anderen, der perfekte Geheimnisträger in der Hosentasche. Allerdings funktioniert diese rationalste Art des Seitensprungs nur, wenn beide Seiten einen kühlen Kopf bewahren, was in der ungleichen Beziehung zwischen Owen und Deb nicht funktionieren kann. Die zweifache Mutter, die ihren Frust und das schlechte Gewissen im Alkohol ertränkt, will Schluss machen mit ihrem präpotenten Liebhaber, der sie zur geilen Milf ("Mother I'd like to fuck") degradiert, eine etwas hässliche Beschreibung von Müttern, die man ins Bett kriegen will. Deb plant den großen Befreiungsschlag, sie wünscht sich sogar das stupide Eheleben zurück, das nur durch Besuche im Country Club und im Fitnessstudio unterbrochen wird. Auch das ist natürlich eine Illusion.

Als Leser kann man durch das dialogische Erzählen gewissermaßen in Echtzeit verfolgen, wie sich die Figuren immer weiter in ihrem eigenen Netz verstricken, wie sie sich wechselseitig manipulieren statt miteinander zu reden, wie sie sich eigentlich immer nur missverstehen. Das gilt selbst für die Kinder in der Komfortzone, die heranwachsenden Smartphone-Junkies und Facebook-Monster: Auch für sie verschwimmt die Realität wie in einem stark verpixelten Bild, das man sich direkt vors Gesicht hält. Das große Face-Book.

Man darf sich von einem Autor wie Jason Starr, der als ehemaliger Tellerwäscher, Telefonverkäufer und Finanzreporter viel von den praktischen Dingen des Lebens weiß, eine spannungsreiche Handlung erwarten, wobei von Beginn an alles etwas zu sehr auf das dramatische Ende zuläuft. "Phantasien" ist dennoch ein ebenso kurzweiliger wie unterhaltsamer Krimi, der auch beim Leser eine gewisse Atemlosigkeit erzeugt, den Wunsch, einfach nur zur nächsten Seite zu springen, zur nächsten Einstellung.

Dieses Buch zu verfilmen, dürfte die Drehbuchautoren in Hollywood vor keine größeren Probleme stellen. Zu intellektuellen Einsichten, zur Selbstreflexion gar sind die Ego-Zocker dieser Vorstadthölle unfähig, dafür sind sie zu sehr Getriebene. Was sie eigentlich suchen, ist nicht ganz klar. Das Glück? Oder doch nur Selbstbestätigung? Betrug und Selbstbetrug liegen immer nah beieinander, das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Allerdings kann es dann auch passieren, dass die wilden, bösen Träume tatsächlich Realität werden.

© SZ vom 02.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: