Konzert:Über alle Barrieren

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Die Hamburger Band "Station 17" hat auch schon mit Szenestars wie "Fettes Brot" zusammengearbeitet. (Foto: 17records)

Das vierte Independent Living Festival im Feierwerk

Von Dirk Wagner, München

Als die Gebärdensprachdolmetscherin Laura M. Schwengber 2012 das erste Mal ein Konzert der Band Keimzeit für taube Zuschauer übersetzte, hatte der damalige Veranstalter sich erbeten, diese von der Band gewünschte Zusatzleistung nicht zu bewerben. "Er befürchtete wohl, dass könne hörende Zuschauer irritieren", sagt Schwengber, die mittlerweile bundesweit für Konzerte gebucht wird. Denn anders als normale Gebärdensprachdolmetscher übersetzt sie nicht nur die gesprochenen, respektive gesungenen Texte. Schwengber lässt auch die gehörte Musik in ihre Gebärdensprache einfließen.

Das heißt, sie ergänzt ihre Gebärden, ihre Mimik, ihr Mundbild und ihre Körperhaltung mit Tanzbewegungen. Oder sie signalisiert mit pantomimisch anmutenden Bewegungen das jeweils dominierende Instrument. Alles gleichzeitig und alles so aufregend schön, dass man ihr auch ohne Kenntnis der Gebärdensprache begeistert zuschaut, wie sie auf dem vierten Independent Living Festival des Vereins "VbA- Selbstbestimmt Leben" die Konzerte in der Kranhalle simultan übersetzt. Damit jeder sie sehen kann, ist ihr ein eigener beleuchteter Platz auf der Bühne zugeteilt. "Wie viele Gehörlose tatsächlich im Saal sind, weiß ich nie. Aber das gehört ja zur Inklusion, dass Veranstaltungen grundsätzlich, und nicht erst nach Anfrage, barrierefrei sind, um niemanden von der Teilhabe auszuschließen", sagt Schwengber.

Mindestens eine gehörlose Zuschauerin blickt während des Auftritts der Hamburger Band Station 17 immer wieder zu Schwengbers Übersetzung: die Tänzerin Kassandra Wedel, die Stunden zuvor mit ihrem Tanz das Programm in der Kranhalle eröffnet hatte. Die Musik dazu spürt sie über den Bass. Als Schauspielerin hat sie zudem gerade in der Tatort-Folge "Totenstille" mitgespielt, die im Januar ausgestrahlt wird. "Meistens werden Gehörlose in Filmen ja von Hörenden gespielt. Als gehörloser Zuschauer erkennt man aber schnell, dass sie zum Beispiel die Gebärdensprache nicht wirklich beherrschen", sagt Wedel, die es darum großartig findet, dass in jenem Tatort gleich mehrere gehörlose Schauspieler mitwirken.

Meistens spielt Wedel in Gehörlosentheatern, die ganz dem Inklusionsgedanken folgend für Menschen, die die Gebärdensprache nicht verstehen, den Schauspielern Schattenspieler zur Seite stellen, die den gesamten Text mitsprechen. Während des Konzerts nun blickt Wedel nur ab und an zu Schwengbers Übersetzung. Ihr Augenmerk gilt der Band, zu deren Musik sie auch als Gehörlose klatscht. Und zwar anders als viele hörende Zuschauer im richtigen Takt!

Nun locken die Hamburger, die schon mit Szenestars wie Fettes Brot, Knarf Rellöm oder Melissa Logan arbeiteten, gewöhnlich auch Zuschauer, die nicht im Rollstuhl sitzen. Dass die Band selbst Menschen mit Behinderungen und Menschen, die angeblich keine Behinderungen haben, eint, vergisst man bei ihrer großartigen Musik ohnehin sehr schnell. "Schließlich sind wir auch keine Behinderten, die Musik machen, sondern Musiker, von denen einige zufällig auch noch eine Behinderung haben", sagt ihr Bassist.

Auf dem Independent Living Festival spielt die Band fast nur vor Rollstuhlfahrern. "Sobald du Inklusion aufs Plakat schreibst, glauben alle, das sei nur was für Behinderte", ärgert sich der Mitveranstalter Andreas Vega vom VbA. Und auch den Behindertenbeauftragten der Stadt München, Oswald Utz, wundert die offensichtliche Geringschätzung eines tollen Programms mit Bands wie Zwoa Stoa oder Blind and Lame von Seiten der sogenannten Nichtbehinderten. "Wir sind hier schließlich nicht in einer abgelegenen Sozialstation, sondern im Feierwerk, einem Zentrum des Münchner Poplebens", sagt Utz, der sich nur all zu oft vom "normalen" Kulturangebot dieser Stadt ausgegrenzt sieht, weil die Veranstaltungsräume nur über Treppen zu erreichen sind, zu schmale Türen für seinen Elektrorollstuhl haben und auch nicht über behindertengerechte Toiletten verfügen.

Selbst das allgemein als barrierefrei eingestufte Feierwerk musste fürs Independent Living Festival aufgerüstet werden. Eine vorhandene Behindertentoilette alleine würde an dem Abend nicht reichen. Also wurde eine weitere Toilette in einem Container vor dem Feierwerk eingerichtet. Und weil die im Rollstuhl sitzende Sängerin von Blind and Lame auch nicht die Treppenstufen zum Backstageraum im ersten Stock der Kranhalle hätte gehen können, wurde ihr ein Backstage-Raum in einem rollstuhlfahrergeeigneten Reisebus des VbAs eingerichtet, den im übrigen Interessierte samt der beim VbA festangestellten Busfahrerin buchen können.

"Weil Blind and Lame, eine gehbehinderte Sängerin und eine blinde Gitarristin, für viele Menschen mit Behinderungen auch rolemodels sind, kommen zu deren Konzerten sehr viele Rollstuhlfahrer. Darum buchen wir Blind and Lame auch nur in barrierefreie Clubs", erklärt die Veranstaltungskauffrau Elnaz Amiraslani von der Nürnberger Booking-Agentur Parvenue. Leider bestehen viele Unsicherheiten darüber, was Barrierefreiheit alles benötigt, sagt sie und plädiert dafür, dieses Thema schon in der Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann zu behandeln. Ansonsten findet Inklusion nämlich auch weiterhin nur auf exklusiven Konzerten statt, was nicht im Sinn eines geltenden Antidiskriminierungsgesetzes sein kann.

© SZ vom 12.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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