Im studentischen Lifestyle-Wert Münchens rangiert die "Stabi" gleich neben den angesagtesten Kneipen und Discos, seit sie ein agiler Kultusminister zur Kontaktbörse der juvenilen Intelligenzija umfunktioniert hat. Natürlich gibt es dort auch Bücher. Welche Schätze die Bayerische Staatsbibliothek aber in ihrem Innersten bewahrt, zeigte sich jetzt wieder an dem musikwissenschaftlichen Symposium "Auge und Ohr". Dort wurde über ihre kostbaren Chorbücher-Autographe aus der Renaissance diskutiert, die vor allem durch die Prachtcodizes von Orlando di Lasso nicht nur für den einstigen europäischen Ruhm der Wittelsbacher Hofkapelle stehen, sondern auch für den heutigen Weltrang der Staatsbibliothek.
Der Höhepunkt des Symposiums war jetzt ein Konzert mit Musik aus diesen Handschriften in der Allerheiligen-Hofkirche. Das englische Brabant Ensemble, 1998 von Stephen Rice, Universitätsmusikdirektor in Bristol gegründet, verwandelte die prachtvoll dekorierte Kalligraphie der Notenschriften in tönende Klang-Kalligraphie. Es artikuliert sich, anders als Ensembles aus den Niederlanden, Italien oder Spanien in der Tradition des englischen Cathedral Choire mit einer subtilen, sanfteren Lesart, die in der introvertierten strukturellen Poesie dieser polyphonen Klangkathedralen als homogenes Strömen Ausdruck findet. Ganz homogen war das Klangbild der zwölf Sänger allerdings nicht immer, wenn etwa in Sätzen von Cipriano de Rore die Schärfe der Frauensoprane oft dominierte. Dafür gelang es wunderbar, in Werken von Jacob Obrecht, Josquin Deprez oder Ludwig Senfl den individuellen Bewegungsduktus einzelner Stimmenverbände zu modellieren.
Die Begleitung durch Video war eine gute Idee (Mediendesigner Tobias Neumann), um den reichen Dekor der Buchmalerei zu zeigen. Aber sie zeigte auch, dass wir im visuellen Zeitalter angekommen sind, was die Konzentration auf den anderen Kosmos der Musik nicht immer fördert.