Konzert:Einstmals echt

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Sido preist in der Muffathalle die guten alten Zeiten des Gangsta-Raps

Von Stefan Sommer, München

Was wäre das Showbusiness ohne dramatische Kostümwechsel? Sieht der Berliner Rapper Sido mit dunklem Kapuzenpullover, Sonnenbrille und Baseball-Kappe auf der Bühne der Muffathalle zunächst noch wie ein paparazziüberdrüssiger Hollywood-Star an einem Flughafen-Terminal aus, verschwindet er zwischen zwei Songs rasch hinter der Bühne. Die Scheinwerfer flackern auf, und Sido kehrt mit Bomberjacke und seinem zweiten Gesicht, einer vergoldeten Knochenmaske zurück. Auf der "Liebhaber-Tour" spielt er in den folgenden 90 Minuten mit ehemaligen Royal-Bunker-Weggefährten wie B-Tight und DJ Werd ein launiges Medley seiner größten Hits - Gangsta-Rap als Nummern-Revue.

Sido und seine Kumpel vom Hip-Hop-Label Aggro Berlin hatten Anfang der Nullerjahre die deutsche Öffentlichkeit mit in eine Welt von Drogen, Kampfhunden und stolzen Hartz-4-Dynastien genommen. Als im April 2004 dann das Video zu "Mein Block" erschien und die kalten Bilder einer Hochhaussiedlung aus dem Märkischen Viertel auf Viva und MTV rotierten, wurde ein Teil der Gesellschaft sichtbar, den die Agenda 2010 jahrelang geleugnet hatte. "Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel, meine Gegend, meine Straße, mein Zuhause, mein Block" - das wurde zum Stoff in mutigen Deutsch-Leistungskursen.

13 Jahre später steht Paul Hartmut Würdig, so der bürgerliche Name des gebürtigen Ost-Berliners, der als Geschäftsmann versuchte, mit dem Tattoo-Studio "Ich und meine Katze" auch in München Fuß zu fassen, noch immer mit der Aura eines Underdogs auf der Bühne. In schneller Reihenfolge spielt er Aggro-Berlin-Klassiker aus den frühen Tagen seiner Karriere: In Stakkato-Duetten mit B-Tight galoppiert er durch sampellastige Tracks wie "West-Berlin", "Fuffies im Club" und selbstverständlich "Mein Block". Präzise und selbstironisch turnt sich Sido durch die Zeilen, beweist auch in der Muffathalle, was er für ein kluger Geschichtenerzähler ist.

Sein Bart ist indes unter der goldenen Maske grau geworden und die Hardcore-Parolen eines wütenden Teenagers wirken heute wie Liebesbriefe, die man nach vielen Jahren auf dem Dachboden findet: Natürlich war das damals echt, aber würde man es jetzt wirklich jemandem laut vorlesen? Rockstars und Popsänger dürfen nun eben altern, selbst Techno-Visionären wie Kraftwerk wird ihre Selbst-Musealisierung als Akt der Autonomie ausgelegt. Aber Rapper? Vielleicht lebt Sido im Jahr 2037 ja in einer Suite im Hotel Atlantik, malt Aquarelle von sich selbst, trägt - wie ein anderer berühmter Zeitgenosse seinen Hut - eine goldene Maske und füllt jeden Sommer immer noch Fußballstadien. Vielleicht.

© SZ vom 26.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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