Die Bilder der Woche dokumentieren den gesellschaftlichen Ausnahmezustand. Zu sehen sind Erzieher, die ein Banner halten: "Wir sind es wert!" So ist es, denkt man. Zu hören ist die Trillerpfeife einer streikenden Kita-Chefin. Gut so. Reportiert werden - ebenfalls zu Recht - die Nöte von Eltern und Großeltern, die sich über ihre Einsatzpläne beugen, als wollten sie ihr gnadenlos durchgetaktetes Leben zwischen Beruf und Familie endgültig zum Termine-Tetris machen. Der Streik an den kommunalen Kitas stellt das Leben der Familien auf den Kopf. Schon wurde die "Fortsetzung des Ausstands" für die nächste Woche angekündigt. "Zehntausende Eltern im Betreuungsnotstand", "Kita-Streik sorgt für familiären Ausnahmezustand": So lauten die Schlagzeilen.
Da tut es vielleicht gut, wenn man auf ein nicht ganz so schreckliches Detail achtet; auf eines, das nicht zum Reich der Erwachsenen gehört, also ins Land all der malträtierten Erzieher, Väter, Mütter, Bürgermeister, Gewerkschaftler oder Bürokollegen, sondern zum Reich der Kinder. Denn sie selbst sind es, die plötzlich wieder zu sehen sind in der Öffentlichkeit. Sie fallen auf. Sie sind da, präsent, vor Ort, im Leben.
Da ist die Oma, die ihr Enkelkind vormittags zum Einkaufen in die Stadt mitnimmt. Da ist der Kollege, in dessen Büro nun Lego gespielt wird. Da ist der sonst verwahrloste, TÜV-Siegel-freie Bolzplatz, der sich mit Leben füllt . . . Diese Tage des Ausnahmezustands machen einem klar, dass die Städte den wahren Ausnahmezustand zementieren und zonieren: ein gesellschaftliches Leben, dem die Kinder als öffentlich wahrnehmbare Wesen nicht nur infolge der demografischen, sondern auch der kulturgeschichtlichen Entwicklung abhanden kommen.
Der Aktionsradius von Kindern schmilzt wie Eis im Klimawandel
Erst jetzt, da man allabendlich in den Fernsehnachrichten diesen Ausrufezeichen-Kameraschwenk über leergeräumte Schnuller-Boards und ungenutzte Gummistiefel-Regale erlebt, wird einem bewusst, dass jetzt ausnahmsweise die Kitas kinderlos sind - sonst ist es in aller Regel der Alltag. Wobei die Entwicklung zur Kinderlosigkeit im öffentlichen Raum einhergeht mit der Aufwertung von Kindern im privaten Raum. Noch 1952 besaß ein Drittel aller Zehnjährigen nicht einmal ein eigenes Bett. Das "Kinderzimmer" war bis zum 19. Jahrhundert nahezu unbekannt. Kinder waren zahlreicher als heute, dabei weniger umsorgt - und in Ermangelung kindgerechter Einrichtungen bevölkerten sie den Raum der Erwachsenenwelt. Hüfthohe Blechdosenkicker inmitten eines Beinewaldes fluchender Erwachsener vor dem Kolonialwarengeschäft - auch so sah jene Urbanität aus, die heute durch den "urban style" smarter Kleinwagen ersetzt wird.
Der Aufwertung kindlicher Lebenswelten folgte eine Art Schutzbiotopisierung der Kindheit: Kinderzimmer, Krippe, Kita, Hort, Spielplatz - bis hin zum Ikea-Kinderparadies, aus dem der kleine Malte abgeholt werden möchte. Der Psychologe Roger Hart hat die "Geografie der Kindheit" erforscht. Ergebnis: In westlichen Gesellschaften schrumpft der Aktionsradius von Kindern wie die Eisscholle im Klimawandel. Aus überbeaufsichtigten Kindern wurden frühgeförderte Stubenhocker, die sich besser in der Grammatik einer Fremdsprache als in der eigenen Straße oder auf Bäumen zurechtfinden.
Es ist klar, dass der Kita-Streik im Interesse der Eltern bald beendet werden muss. Richtig ist auch, dass Erzieher gesellschaftlich aufzuwerten sind, denn auch das ist im Interesse der Eltern wie der Kinder. Man kann es aber auch bedauern, wenn die Kinder dann wieder aus dem Weich- und Wimmelbild jener Städte verschwinden, die eigentlich seit jeher Integrationsmaschinen für alle sind.