Kommentar:Tattoos für den Gehörgang

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Der "Guardian" fragte nach: Hat sich die Pop-Musik so erschöpft, dass nichts Neues mehr entstehen kann? Nicht ganz. Denn Verknappung entsteht dadurch, dass Bewährtes immer nach Wiederholung ruft.

Von Thomas Steinfeld

Zuletzt wurde der britische Sänger und Gitarrist Ed Sheeran verklagt, sein Lied "Photograph" stelle zumindest in Teilen eine Verletzung des Urheberrechts dar. Verlangt wurden dafür zwanzig Millionen Dollar. Zu Beginn dieser Woche einigte man sich außergerichtlich. Die Höhe der Summe wurde nicht bekannt. Es ist nicht das erste Mal, dass Ed Sheeran so etwas widerfährt: Vor zwei Wochen erhielt sein Lied "Shape of You" (2017) zwei neue Autoren, im vergangenen Jahr wurde er beschuldigt, für seinen Song "Thinking Out Loud" (2014) bei Marvin Gaye abgeschrieben zu haben. Mit solchem Ärger ist er bei Weitem nicht allein. Von Mark Ronson bis Led Zeppelin: Die Urheberschaft scheint zu einer unsicheren Angelegenheit geworden zu sein.

Die britische Tageszeitung The Guardian ließ deswegen nun bei Musikwissenschaftlern fragen, ob der Grund für die vielen juristischen Verfahren darin liegen könne, dass das kompositorische Material der Popmusik erschöpft sei - was vielleicht nach siebzig Jahren Umlauf so unwahrscheinlich nicht sei. Die Antwort fällt zwiespältig aus: Denn auf der einen Seite sind die Möglichkeiten, die acht Töne einer Tonleiter miteinander zu verknüpfen, beinahe unendlich. Auf der anderen Seite aber tritt eine Verknappung dadurch ein, dass Bewährtes nach Wiederholung ruft, wobei das Kopieren keineswegs immer absichtlich sein muss: Denn populäre Musik wird nach Maßgabe von "hooks" gestaltet: kleinen, für das jeweilige Lied und den jeweiligen Musiker aber charakteristischen musikalischen Elementen, die sich in den Ohren niederlassen, als habe man sie in die Gehörgänge tätowiert.

Als Peter Townshend, der Gitarrist der Who, darauf hingewiesen wurde, das Lied "Best Song Ever" (2013) der Boygroup One Direction gleiche verblüffend seiner Komposition "Baba O'Riley" (1971), antwortete jener: "Die Akkorde, die ich benutzt habe, und die Akkorde, die sie benutzt haben, sind dieselben drei Akkorde, die wir alle benutzt haben, seitdem Buddy Holly, Eddie Cochran und Chuck Berry klargemacht haben, dass aus schwierigen Akkorden nicht unbedingt großartige Musik entsteht." Gewiss hat Pete Townshend mit diesem Satz recht. Geändert aber hat sich trotzdem etwas: Das Maß, in dem das Urheberrecht mittlerweile auf alles zugreift, was nur von Ferne einem Einfall gleicht.

© SZ vom 15.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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