Kommentar:Konferenz mit Kassandra

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Zum ersten Mal gibt es zur Münchner Sicherheitskonferenz ein literarisches Beiprogramm. Am ersten Abend war der israelische Autor David Grossman zu Gast.

Von Christopher Schmidt

(Foto: schmidt_christopher)

Was ist von einer Politik zu halten, die in der Parallelwelt des Postfaktischen und damit im Reich der Fiktionen angekommen ist? Es liegt nahe, Antworten auf diese Frage bei denen zu suchen, die es von Berufs wegen wissen müssen, den Schriftstellern. Erstmals hat die Münchner Sicherheitskonferenz daher in diesem Jahr ein literarisches Begleitprogramm aufgesetzt. Drei Autoren von Weltgeltung und politischer Statur - David Grossman, Wole Soyinka und Herta Müller - wurden eingeladen, über die Rolle der Literatur als Kassandra zu sprechen. Den Anfang machte am Donnerstagabend der israelische Schriftsteller David Grossman.

Nur einen Tag nach dem Treffen von Donald Trump und Benjamin Netanjahu, bei dem der amerikanische Präsident die Zwei-Staaten-Lösung im Nahostkonflikt zur Disposition stellte, tritt Grossman entschieden für einen Palästinenserstaat ein, als einziger Möglichkeit für beide Seiten, ihrer Selbstzerstörung ein Ende zu setzen. "Wie viel Blut muss noch fließen, bis wir einsehen, dass es nur so eine Zukunft gibt?", fragt Grossman. Und wie verblendet müsse ein Donald Trump sein, der dies bestreitet. Für Grossman ist der amerikanische Präsident ein Mann, der allein von Impulsen getrieben werde, seiner gefühlten Wahrheit. Damit bringe Trumps globale One-Man-Show eine gefährliche Unberechenbarkeit in die Weltpolitik, die das Gegenteil brauche, Verlässlichkeit, Stabilität. Und Vernunft anstelle eines Realitätsbegriffs, der sich wie in einem Albtraum verflüssige.

Was aber kann nun die Literatur beitragen angesichts einer Weltlage, die von neuen Autokraten bestimmt wird? Grossman zitiert Stalin, der gesagt haben soll: "Der Tod eines Einzelnen ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen nur Statistik." Die Aufgabe der Literatur, so Grossman, bestehe genau darin, die Tragödie niemals zur Statistik werden zu lassen, eine Haltung, die auch Angela Merkel bewiesen habe, als sie die Grenzen für Flüchtlinge öffnete. Literatur ertüchtige zur Empathie, weil sie stets vom Einzelnen zum Einzelnen spreche, von Individuum zu Individuum. Grossman unterscheidet zwischen dialogischen und hermetischen Menschen, denen, die sich verhärten, und jenen, die in der Lage sind, sich selbst mit den Augen ihres Feindes zu betrachten. "Von vielem, was ich vordem sagte, weil es mir nötig schien / Das Gegenteil zu sagen, heg ich keine Scheu", heißt es in der "Agamemnon"-Tragödie des Aischylos, auf die sich Grossman beruft. Literatur mobilisiere Widerstandskräfte, indem sie unsere innere Autonomie stärke.

Dass die Literatur der Politik einiges zu sagen hat, dafür lieferte David Grossman an diesem Abend ein eindrückliches Beispiel. Doch wer hört auf Kassandra? Ob ein Politiker im Raum sei, wurde irgendwann gefragt. - Keine Antwort.

© SZ vom 18.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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