Er verblüfft noch immer. Der groß gewachsene, schlaksige und ewig jugendliche Ivo Pogorelich betritt das Podium des Münchner Herkulessaals ein wenig vor der Zeit. Längst haben nicht alle Zuhörer ihre Plätze eingenommen, und als der Pianist seinen Blick durchs Parkett streifen lässt, bevor er sich auf seinem Klavierschemel niederlässt, glaubt man beinahe etwas Unwirsches in seinen Augen zu entdecken.
Es ist dann aber doch schiere Gelassenheit. Ebenso geht er Ludwig van Beethovens F-Dur-Sonate Nr. 22 an: als die mentale Anstrengung, Entschlossenheit und Gelassenheit zusammen zu zwingen. Das lyrische Hauptthema walzt er mit donnernden Fortissimo-Oktaven nieder, ein melodisches Andante explodiert in Presto-Raserei. Es ist eine ziemlich verrückte Sonate, die schon zu Lebzeiten Beethovens mehr Kopfschütteln hervorrief als Applaus. Noch heute schockieren die krassen Gegensätze und extremen Auswüchse, die formalen Verwerfungen und entschiedenen Uneindeutigkeiten. Vorausgesetzt, man kann hat das Bewusstsein und die Nerven, diese Sonate auch so zu spielen, wie sie komponiert ist. Und das ist mehr eine Charakterfrage als eine der technischen Fähigkeiten oder des musikalischen Verständnisses. Ivo Pogorelich ist so ein Charakter: sensibel und unbeugsam, kraftvoll, manchmal fast gewaltsam in der großflächigen Bearbeitung des Flügels. Sein Spiel hat nichts Gefälliges, nichts Anbiederndes. Er liefert keine bildreichen Deutungen oder sonstige Hörhilfen, wie man sie von Alfred Brendel bekam, der die thematischen Gegensätze dieser Sonate klassischerweise als männlich-weiblich auslegte, oder als ein Musical-Szenario zu "La Belle et la Bête".
Bei Pogorelich ist man entweder mittendrin in den Beethovenschen Gedankengängen oder man ist ganz weit außen vor. Ein bisschen Annäherung gibt es nicht. Da würde vieles stören, vor allem die Ruppigkeit der Tongebung, die entschiedene Abwehr eines kultivierten Klavierklangs. Der stellt sich, wenn überhaupt, nur dann ein, wenn ihn die Komposition erzwingt.
Bei Pogorelich ist man entweder mittendrin oder ganz weit außen vor
Wenn eine Melodie oder ein Motiv-Fetzen doch einmal ein zusammenhängendes Legato erfordert oder wenn in einem trockenen subito piano das vorangegangene Fortissimo noch so kräftig nachschwingt, dass sich unwillkürlich eine Art seelischer Erschütterung einstellt. Das sind große Momente, die dieser Pianist oft mit zurückhaltender Geste erreicht. Das rein Virtuose ist eher nebensächlich, zudem ein bisschen zu hölzern und lange nicht so perfekt, wie es sein müsste, um allein damit Furore zu machen. Es würde auch vom eigentlichen musikalischen Drama ablenken.
Genauso spröde, erdig und eckig kommt Robert Schumanns C-Dur-Toccata daher. Pogorelich changiert zwischen mechanistischer Hyperaktivität und parodistischem Leerlauf. Romantische Ekstase verbietet er sich - und dem Publikum. Stattdessen soll Askese die Gemütlichkeit unterwandern und aushöhlen. So weit, so gut, so deutsch.
Aber was ist mit Claude Debussy? Wie soll man der französischen Leichtigkeit mit solch einer Haltung gerecht werden? Pogorelich geht hier das größte Risiko ein, holt Debussy aus dem Ungefähren, pointilistisch Unbestimmbaren und Vagen zurück in eine sehr konkrete Klangwelt. Weil er dem Komponisten, der erst spät zur Klaviermusik gefunden hat, doch zutraut, jenseits des flüchtigen Empfindens auch einen stabilen, angreifbaren, streitbaren Kern zu gestalten. Manches geht dabei verloren. Es fehlt das Koboldhafte, das Glitzernde und Gleißende, die zauberhafte Feen-Welt. Und es kommt noch schlimmer: Enrique Granados' "Spanische Tänze" nötigt Pogorelich zu seriöser, tiefgründiger Tastenmusik. Am Ende Sergej Rachmaninoffs Moments Musicaux op.16, und es scheint, als sei alles Vorangegangene notwendiges Vorspiel für diese neue Klangwelt gewesen.