Klassische Musik:Pure Energie

Lesezeit: 5 min

Auf ihren Chefposten in Salzburg und Birmingham zeigt Mirga Gražinytė-Tyla aus Litauen gerade, was junge Dirigentinnen inzwischen bewegen können. Eine Begegnung.

Von Egbert Tholl

Ein Probenvormittag im Landestheater Salzburg, eine Woche vor der Premiere von Mozarts "Idomeneo". Kein Durchlauf, keine Hauptprobe, richtiges Arbeiten. Mirga Gražinytė-Tyla steht im Graben, das Mozarteumorchester sitzt vor ihr, neben ihr singt Tamara Ivaniš, die Sängerin der Ilia, die letzte Phrase eines Rezitativs. Dann bricht die Dirigentin ab, nimmt die Sängerin bei der Schulter, umarmt sie fast zärtlich, dreht sie zur Partitur und spricht mit ihr über die Stelle. Für den strengen Musikbetrieb wirkt das erstaunlich intim - als betrachteten zwei Freundinnen gemeinsam eine wertvolle Miniatur.

Die junge Dirigentin, die sich hier so liebevoll einer Sängerin annimmt, macht gerade eine der erstaunlichsten Karrieren im Musikgeschäft. Im August gab Mirga Gražinytė-Tyla ihr Antrittskonzert als Musikdirektorin des City of Birmingham Symphony Orchestra. Seit Sir Simon Rattle hier wirkte, ist dieses eines der renommiertesten Konzertorchester der Welt, Gražinytė-Tylas unmittelbarer Vorgänger im Amt war Andris Nelsons. Als sie in Birmingham antrat, war sie erst 29 Jahre alt, inzwischen ist sie 30.

Als im Jahr 2005 Simone Young Generalmusikdirektorin der Hamburger Oper wurde, drängte die Frage nach ihrem Geschlecht erst einmal die nach ihrer Kunst in den Hintergrund. Dabei hatte sie zuvor die Oper in Sydney geleitet. Young brach damals in eine Männerdomäne ein, von den 79 Generalmusikdirektoren in Deutschland im Jahre 2005 waren drei weiblich. Entsprechend harsch wurde mitunter mit ihr umgesprungen, wurden Fehler größer wahrgenommen als bei einem Mann. Im Laufe ihrer zehn Jahre in Hamburg änderte sich das, wurde sie als Künstlerin diskutiert.

Mit Young änderte sich etwas in der Orchesterlandschaft, inzwischen gibt es zahlreiche Dirigentinnen wie Anu Tali, Susanna Mälkki, Alondra de la Parra, Barbara Hannigan, Emmanuelle Haïm, die teils eigene Orchester leiten und bei den ganz großen zu Gast sind, sogar die Wiener Philharmoniker, der allerkonservativste Macho-haufen der Musikwelt, ließen sich bereits vier Mal von Frauen leiten.

Es ist eine reine Freude, Mirga Gražinytė-Tyla beim Dirigieren zu beobachten. Feuert sie den stürmischen Chor an, dann erinnern ihre reine Energie verströmenden Bewegungen an die ihres Kollegen Kirill Petrenko. Nur ist sie noch viel zierlicher als der. Sehr aufrecht steht sie am Pult und macht immer wieder interessante Sachen mit dem Stab, streckt den rechten Arm waagerecht nach vorne und malt kleine Kringel. Ähnliches macht sie auch manchmal mit der linken Hand, dann nur mit den Fingern, es hat etwas Beschwörendes, Hypnotisierendes. Sie verbindet Leidenschaft mit Akkuratesse, geht präzise und rasant einzelne Stellen durch, sagt dann etwa "Nummer zwei, bitte" und hat dabei einen Tonfall, als künde sie eine ganz besondere Leckerei an. Sie ist umwerfend freundlich zu ihren Musikern, sagt etwa "sehr gern möchte ich, dass wir einmal Takt 87 spielen". Zu diesem Zeitpunkt kann man sich absolut sicher sein, dass die Musiker jede beliebige Stelle zu jeder Zeit mit ihr spielen würden, einfach aus Freude.

Es ist eine reine Freude, Mirga Gražinytė-Tyla beim Dirigieren zu beobachten. Hier leitet sie das Los Angeles Philharmonic. (Foto: Los Angeles Times)

Dann kommt Mirga Gražinytė-Tyla zum Gespräch, huscht herein wie eine als Bub verkleidete Fee, entschuldigt sich erst einmal, dass sie noch dahin müsse, "wohin die Zwerge gehen". So sagt man in Litauen, wenn man auf die Toilette muss. Dann erzählt sie von einem Projekt, das sie im Frühling in Salzburg vorhat, drei Werke von ihrem Landsmann Bronius Kutavičius, Märchen, Oratorium und tönender Essay, im Park und in der Kirche, sie ist pure Vorfreude, malt plastisch die verrücktesten Dinge aus, und man kommt kaum hinterher.

Nachdem die Musiker in Birmingham sie erlebt hatten, wollten sie unbedingt mehr

Mirga Gražinytė-Tyla wurde 1986 in Vilnius geboren, in eine Musikerfamilie hinein, ging 2004, "nach der Matura", wie sie sagt, zum Studieren nach Graz. Damals sagte sie ihren Mitschülern noch, sie werde nach dem Studium nach Litauen zurückkehren, viele Kinder haben und einen Apfelbaum pflanzen. Es kam anders. Über ein Erasmus-Programm ging sie nach Bologna, studierte danach in Leipzig, Zürich und Hamburg, gab 2010 ihr Operndebüt mit "La Traviata" in Osnabrück, wurde zweite Kapellmeisterin in Heidelberg (wo sie noch eine Wohnung hat, in der ihre Partituren lagern), bald erste in Bern und hat derzeit drei Jobs. Neben Birmingham und Salzburg ist sie noch fester Gast beim Los Angeles Philharmonic.

Ein internationaler Mensch, doch sie wirkt ganz anders, wurzeliger. Kein Wunder, dass sie in Salzburg die Werke ihres Landsmanns aufführen will. Sie hört die Sprache ja nie. Heimweh? "Sagen wir, es hat sich mittlerweile transformiert auf eine Ebene, auf der es mich nicht mehr quält, sondern etwas Schönes suggeriert." Im Jahr, als sie nach Graz ging, wurde Litauen Teil der EU. Seitdem hätten eine Million Menschen das Land verlassen. "Die Wunden liegen immer noch offen, man sucht etwas Besseres." Wunden, die nicht erst der Kommunismus schuf; davor war Litauen Teil des Zarenreichs, im 15. Jahrhundert reichte, so erzählt sie, das Land als Großfürstentum bis ans Schwarze Meer. "Wir haben lange nicht selbständig entschieden; nun gibt es viele Aufgaben und es wird fleißig daran gebaut."

Der Eindruck, dass auch sie weit wegwill und inzwischen internationale Posten sammelt, ist falsch. Ihren laufenden Drei-jahresvertrag als Musikdirektorin in Salzburg - "wieder ein Ort, nach dem ich Heimweh haben werde" - wollte sie eigentlich ordentlich zu Ende bringen. Doch dann wurde sie von den Musikern in Birmingham zu einem Konzert eingeladen, im Sommer vergangenen Jahres, und diese hörten danach nicht mehr auf, sie zu drängen. So nahm sie die Doppelbelastung an. Bald aber wird sie sich ganz auf Birmingham konzentrieren.

YouTube

Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von YouTube angereichert

Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von YouTube angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.

Sie glaubt auch fest daran, dass Orchester ganze Städte verändern, und die Erfolgsgeschichte des Orchesters in Birmingham und deren Auswirkungen auf die Stadt geben ihr recht. Aber nicht nur wegen der Konzerte, wie sie betont: "Du hast hundert Leute in der Stadt, die Musik machen, Neue Musik, Orgel spielen, Kammerkonzerte geben." Diese Idee versucht sie auch anderswo umzusetzen, im September dirigierte sie in Klaipėda, der drittgrößten Stadt Litauens, ein Kammerorchester. Eine Woche Proben, sechs Stunden am Tag: "Es war sehr anstrengend, auch körperlich; aber wir haben Wunderdinge gefunden."

Bruckner erklärt sie so: "Der Bär muss mit dem Hasen in die richtige Richtung gehen."

Diese Suche nach den Wunderdingen geht in viele Richtungen. Der klassische Bereich werde sie bis an ihr Lebensende beschäftigen, der davor auch. Als Teenager wollte sie Barocksängerin werden - "ist bislang nichts geworden". Und: Das Neue, kaum Entdeckte liegt ihr am Herzen. In der vergangenen Saison etwa brachte sie die bis dahin vergessene Kurzoper "Stormy Interlude" von Max Brand von 1955 im Landestheater heraus. Aber sie macht nicht nur Exotisches, keineswegs, und kommt dann auf einen Punkt, da glaubt man, sie wolle einen foppen, weil sie einen Journalisten aus München vor sich hat, aus der Stadt, in der alle großen Orchester und Dirigenten daran gemessen werden, wie sie Bruckner spielen. Bruckner gab es in Litauen noch nie als Zyklus. Aha, denkt man sich, die Glücklichen, bis Mirga Gražinytė-Tyla Bruckner erklärt. So, wie es noch keiner tat: "Bruckner ist simpel und kompliziert. Der Bär muss mit dem Hasen gemeinsam in die richtige Richtung gehen. Dann funktioniert es."

Mirga Gražinytė-Tyla spricht ein farbenreiches, leuchtendes Deutsch mit manchen überraschenden Wendungen. Es gibt noch viele schöne Sätze von ihr über Musik, aber zuletzt muss es doch um die Frage gehen, wie exotisch eine junge Frau sich als Chefin eines bedeutenden Orchesters noch fühlt. "Es ist ein Thema - und doch keines", sagt sie. Nie wurde sie aus dem Orchester heraus direkt darauf angesprochen. "Das ist ein Verdienst, wenn man so will, der Sowjetzeit: Keine meiner Bekannten ist Hausfrau." Und wenn ohnehin alle arbeiten, wieso nicht als Dirigentin? "Wie wollen wir unsere Gesellschaft prägen, wenn wir unsere Heranwachsenden nur in bestimmten Rollen sehen?"

Premiere "Idomeneo" am Sonntag, 4. Dezember, im Landestheater Salzburg.

© SZ vom 03.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: