Theorien können helfen, Fachwissen ist nicht verkehrt, aber die letzten Fragen muss die Kunst selber beantworten. Was berührt uns an großer Musik, wodurch bewegt sie uns? Warum schaffen das einige Künstler besser als andere? Neuerdings unterscheidet man wieder zwischen virtuos, musikalisch, intellektuell. Aber jeder Musiker weiß, dass alles zusammenkommen muss, wenn wirklich Musik entstehen soll. Das ungewöhnlichste Programm, die interessante Rede nützen nichts, wenn die Musik selber nur stammelt. Umgekehrt wissen gute Musiker sehr genau, was sie tun, haben aber nicht immer Lust, darüber zu reden. Evgeny Kissin ist so ein Fall.
Man hat von Daniil Trifonov schon großartigen Mozart, Bach und Beethoven hören können, und natürlich ist sein Live-Spiel unmittelbarer, intensiver, magischer als alle CD-Aufnahmen. Aber auch die vermitteln mitunter einen Eindruck von der Größe dieses Pianisten. Zunächst, so scheint es, will er die Werke der russischen sowie des polnisch-französischen Romantikers Frédéric Chopin aufnahmetechnisch abarbeiten, bevor sich sein breites Repertoire nicht nur in Live-Konzerten, sondern auch in CD-Aufnahmen widerspiegelt. Aber selbst dann, wenn er so populäre Stücke aufnimmt wie nun die beiden Klavierkonzerte von Chopin (DG), erleben wir nicht das Gewohnte. Nicht nur, weil das begleitende Mahler Chamber Orchestra unter Leitung von Mikhail Pletnev, hier eine orchestral völlig neu ausgearbeitete Fassung des Dirigenten spielt, oder weil Trifonov um diese Werke herum Werke von Schumann, Grieg, Barber, Tschaikowsky und Mompou gruppiert, die auf Chopin Bezug nehmen. Es geht vielmehr um den persönlichen Zugang zu Chopin durch Trifonov, der hier neue Hörräume erschließt. So unaufgeregt, ja unspektakulär hat man den Kopfsatz des f-Moll-Konzertes wohl noch nicht gehört. Trifonov durchleuchtet erst einmal die poetischen Schichten des Beinahe-Noch-Klassikers Chopin, bevor er sich im finalen Allegro vivace auch mal zu kleineren virtuosen Ausbrüchen hinreißen lässt. Aber auch die sind keine exzentrischen Demonstrationen sinnfreier Akrobatik, sondern komplett in den Dienst musikalischer Entfaltung gestellt. Dies verlangt schier übermenschliche Disziplin und Souveränität, wie man sie dann gleich wieder in den Chopinschen Don-Giovanni-Variationen erleben kann. Einem Werk, auf das Robert Schumann mit dem Satz reagierte: "Hut ab, ihr Herren, ein Genie." Eine Einschätzung, die weiterhin Komponisten vorbehalten bleibt, auch wenn man im Falle von Daniil Trifonovs Wiedergabe gerne eine Ausnahme machen würde.
In letzter Zeit wurde es etwas ruhiger um ihn, jetzt hat sich Evgeny Kissin mit einem Beethoven-Sonatenalbum (DG) zurückgemeldet, auf dem er mehr von sich preisgibt, als man von ihm gewohnt ist. Man kennt ihn als hochseriösen, technisch makellosen, musikalisch inspirierten, aber nicht eben im Gefühlsüberschwang badenden Pianisten; er konnte sehr kühl sein. Ob die neue persönliche Annäherung an Beethoven damit zu tun hat, dass hier Live-Mitschnitte zu hören sind, in denen sich spontaner Furor Bahn bricht? Oder damit, dass sich der 45-Jährige einem veränderten geistigen Weltklima ausgesetzt sieht und einer neuen Pianistengeneration? Kissin muss die Konkurrenz in Sachen Beethoven nicht fürchten. Weder intellektuell noch technisch. Junge Virtuosen sind Mangelware, das spieltechnische Niveau ist eher gesunken, ein wirklich klares, singendes Legato sucht man meist vergeblich. Kissin hat es, Trifonov hat es, und zieht man die zeitgleich erschienene Sonaten-Gesamtaufnahme von Stephen Kovacevich (Warner) heran, wird man erstaunliche Ähnlichkeiten und Unterschiede entdecken. Kissin wirkt dabei allemal unnachgiebiger, unbedingter, herber, rauer, härter. Hat der in sehr jungen Jahren technisch und mental Frühvollendete jetzt seinen Altersstil erreicht?
Zum 40. Todestag der Jahrhundert-Sopranistin Maria Callas bringt Warner 20 Opern-Livemitschnitte, die einen überraschenden Einblick in die Bühnengewohnheiten der Callas bieten: ihre Risikobereitschaft, die in den Studioaufnahmen zugunsten einer ausgewogenen Klangkultur eingeschränkt ist. Live und Studio kann man aber schwerlich gegeneinander ausspielen, sie bleiben nicht nur unterschiedliche formale und psychische Settings, sondern sind im Grunde verschiedene Medien. Beide haben neben dem dritten, der Live-Aufführung im Opernhaus, nicht nur ihre historisch-wissenschaftliche Berechtigung, sondern bilden zusammen die gegenwärtige, technisch entwickelte, gleichwohl lebendige Musikwelt, die nach neuesten Umfragen zunehmend junge Hörer begeistert.