Klassikkolumne:Geist der Utopie

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Otto Klemperer war einer der allergrößten Dirigenten. Eine neue Film- und CD-Kassette erkundet sein Leben - und sein letztes Konzert.

Von Harald Eggebrecht

In der Aufführungsgeschichte von Musik gibt es immer wieder Gestalten, die bei aller Gebundenheit an die eigenen historischen Umstände dennoch so aus ihrer Zeit herausragen, dass ihnen etwas Überlebensgroßes anhaftet. Der Dirigent Otto Klemperer, 1885 in Breslau geboren und 1973 in Zürich gestorben, war einer dieser Giganten. In seinem Leben und Wirken hat sich nicht nur das zwanzigste Jahrhundert gewissermaßen versammelt, sondern seine Art und Weise in der Realisierung von Musik stellt eine Kategorie für sich dar.

Dass der alte Klemperer zu langsamen, manchmal geradezu erdenschweren Tempi neigte, ist auch heute noch einigermaßen bekannt. Doch das ist nur eine Äußerlichkeit. In Klemperers gelungenen Aufführungen entfalteten sich der ganze Ernst, die Dringlichkeit und Bedeutung von Musik. Es verwundert deshalb nicht, dass der Philosoph Ernst Bloch, der in seinem Buch "Geist der Utopie" eine Philosophie der Musik entwirft, in Otto Klemperer den wahren Anwalt der Musik sah, der sie gleichsam zur "Sprache" brachte im Sinne des "personare, also, des durch ihn hindurch klingen". Die beiden knorrigen Herren Bloch und Klemperer waren auch befreundet seit dessen berühmter Berliner Zeit als Chef der Kroll-Oper, an der schon modernes Musiktheater stattfand und nicht mehr Wohlfühl-Plüschoper.

Im Jahr 1933 endete Otto Klemperers Zeit in Deutschland, als Jude und als "Kulturbolschewist" musste er vor den Nazis fliehen. Nun begann eine wahre Odyssee, die den hünenhaften Maestro mit dem Adlergesicht zuerst zum Los Angeles Philharmonic Orchestra führte. Ein wahrlich seltsamer Gegensatz zwischen dem grüblerischen, eher manisch-depressiven Deutschen und dem Glamour Kaliforniens. Versuche, an der Ostküste Fuß zu fassen, misslangen trotz guter Kritiken; eine Aufführung mit den New Yorker Philharmonikern von Mahlers zweiter Symphonie fand vor halb leerem Saal statt.

Zu Klemperer gehört auch eine verstörende Serie von Unfällen und Krankheiten. 1933 fiel er vom Podium in Leipzig mehrere Meter tief und wurde bewusstlos; 1939 wurde ihm in Boston ein gutartiger Hirntumor, etwa so groß wie ein kleiner Apfel, entfernt. Doch es bleibt davon eine rechtsseitige Lähmung, Klemperer muss eine Weile seine Aktivitäten unterbrechen. Los Angeles kündigt ihm, er dirigiert in der Carnegie Hall auf eigene Kosten ein Orchester von stellungslosen Musikern, um auf seine Fähigkeiten aufmerksam zu machen. Nach dem Krieg verschlägt es ihn an die Oper in Budapest, wo er bis 1950 als Chef fungiert. Doch er gerät in Konflikt mit der kommunistischen Kulturpolitik und geht. 1951 stürzt er in Montreal, erleidet einen komplizierten, nur langsam heilenden Beinbruch. In der McCarthy-Ära wird ihm sein amerikanischer Pass entzogen.

1954 kehrt er nicht in die USA zurück, zieht nach Zürich und wird wieder Deutscher. Es ist dann seine Arbeit mit dem Londoner Philharmonia Orchestra, die ihm nun endlich die weltweite Anerkennung als einem der ganz Großen bringt. 1958 kommt es zu einem Brandunfall, Klemperer braucht fast ein Jahr, um wieder auftreten zu können. Als der Produzent Walter Legge 1964 das Philharmonia Orchestra auflöst, beschließen die Musiker unter Klemperers Vorsitz, in eigener Regie weiterzuarbeiten als New Philharmonia Orchestra. Unentwegt arbeitet der Dirigent, reist, obwohl er längst im Sitzen dirigieren muss. 1971 schließlich leitet er in London sein letztes Konzert mit Beethoven und Brahms.

Nun ist eine Kassette herausgekommen, die nicht nur den sehr eindringlichen Film von Philo Bregstein über "Otto Klemperer's long journey through his times" präsentiert, sondern auch Probenausschnitte vom letzten Konzert, das selbst auf zwei CDs dokumentiert ist. Außerdem sind Interviews mit Ernst Bloch, Pierre Boulez, Vladimir Ashkenazy und anderen beigefügt. Wer nicht schon von den Bildfolgen und Otto Klemperers lakonischen Kommentaren zu seiner Biografie "bigger than life" beeindruckt ist, den wird jene Unbedingtheit und Gewissheit packen, mit der Klemperer Beethoven und vor allem die dritte Symphonie von Brahms dirigiert hat. Es entsteht dabei eine Unmittelbarkeit des Klangs, des Tonfalls Brahmsscher Musik, als könne sie nur so erklingen: geradezu schockierend gegenüber heute üblicher Hurtigkeit und Beiläufigkeit. (Arthaus)

Doch auch junge Musiker können wunderbar ausdrucksintensiv, klangfarbenreich, fantasievoll und neugierig sich musikalischer Wahrheit nähern. Die österreichische Geigerin Marie Radauer-Plank und ihre Klavierpartnerin Henrike Brüggen haben sich den Violine-Klavier-Stücken des großen Polen Karol Szymanowski gewidmet. Die Aufnahmen zeugen von leidenschaftlicher Hingabe und einem direkten Sinn für diese hochartifizielle Musik. (Genuin)

© SZ vom 21.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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