Klassiker der Klassik:Den Meistern so nah

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Meisterkurse, Proben, Konzertmitschnitte: Viele große Musiker haben Filmdokumente hinterlassen, auf denen man sie bei der Arbeit beobachten, bewundern und immer wieder viel lernen kann. Welch ein Glück!

Von Harald Eggebrecht

"Back to the basics!", sagte der große, für seine analytische Schärfe und sarkastische Strenge berühmte ungaroamerikanische Cellomeister János Starker (1924 - 2013), als er bei seinem allerletzten Meisterkurs in Deutschland über die großartige Qualität des jungen Cellisten Gabriel Schwabe staunte. "Was soll man sagen, wenn jemand so wunderbar und vorbildlich spielt?", fragte der Meister. Dann kam sein Statement "back to the basics!". Und da ging es um Grundlagen von Bogentechnik, Sitz am Cello und so fort. Es war die lebendige Kommunikation zwischen Lehrer und Student im Beisein von Publikum.

Alle derzeitigen Live-Streamings sind ehrenwert, ja sogar überlebenswichtig. Aber die Unmittelbarkeit und die zentrale Spannung der Dreiheit zwischen Komposition, Spieler und Zuhörer in einem Raum zu gleicher Zeit muss schmerzlichst vermisst werden. Die Banalität der eigenen Wohnung, die oft technische Unzulänglichkeit und die unüberwindbare Ferne schmälern die Erfahrungen mit den Streaming-Unternehmungen empfindlich. Inzwischen gibt es natürlich auch im Studio vorproduzierte Videos, sodass auch noch der blasse Live-Effekt verschwindet und halt eine mehr oder weniger gelungene Studioaufnahme übrig bleibt.

Man begegnet einer elektrisierenden Welt wahren Musizierens

Da möchte man in Anlehnung an Mephito sagen: "Von Zeit zu Zeit seh ich die Alten gern!", weil ein Griff zu Filmen und Live-Mitschnitten von Proben, Meisterklassen, denkwürdigen Konzerten gewissermaßen auch eine Art "back to the basics!" ist. Denn auch wenn all diese Filme aus der Vergangenheit erzählen, so dokumentieren sie doch jene so bitter vermisste Direktheit der Kommunikation zwischen Aufführenden und Zuhörern oder die Spannung des Austauschs zwischen Lehrer und Studenten. Gerade bei jenen einzigartigen Musikern, deren Lebenskraft, Geistesgegenwart und unverwechselbare Persönlichkeit aus diesen Dokumenten so fesselnd und mitreißend spricht, dass man wieder sofort gebannt ist und versteht, warum sie das vergangene Jahrhundert musikalisch exemplarisch geprägt haben und weiterhin imposante Vorbildgestalten der aufzuführenden Musik bleiben.

Wenn etwa der alte Pau Casals, der legendäre Vater des modernen Cellospiels, in einer Meisterklasse 1960 an der Universität von Berkeley in den USA einer jungen Studentin zuhört, die die Bourée aus der Dritten Solosuite von Bach spielt, ordentlich, gründlich studiert und auffallend gesetzt im Tempo. Sie endet, schaut den alten Meister erwartungsvoll an. Der strahlt sie an, sagt dann spitzbübisch "Look!" und zaubert in unwiderstehlicher Vitalität die Bourrée hin - rasch, frisch im Rhythmus und wunderbar tänzerisch phrasiert. Für die Studentin ist es geradezu ein Schock, dieser völlig anderen, elektrisierenden Welt wahren Musizierens zu begegnen, die so gar nichts mit ihrer eingeübten Bravheit zu tun hat. Bei ihr klang Bach wie sprödes Übungsmaterial, bei Casals ist es das pure Leben.

Oder man sieht jenen Geiger, dessen Erscheinung so vertrauensvoll, stabil, imponierend, seriös war, als stehe da der Vater schlechthin: David Oistrach. Genauso sein Spiel, unverwechselbar, leidenschaftlich und expressiv bis an die Grenze dessen, was die Musik fordert. Aber nie selbstverliebt, manieriert, geschmäcklerisch oder vordergründig. Daher ist der Film-Mitschnitt der Uraufführung des Zweiten Violinkonzertes von Dmitri Schostakowitsch aus dem großen Saal des Moskauer Konservatoriums 1967 mit den dortigen Philharmonikern unter dem impulsiven Dirigenten Kyrill Kondrashin so aufregend wie am ersten Tag. Weil Oistrach so unbedingt ernst macht mit der Musik, weil er in sie eintaucht und sie verdeutlicht frei von Mätzchen oder "Interpretation".

Schostakowitschs tiefe Traurigkeit, sein Sarkasmus, seine klagend-melodiöse Erfindungskraft stellen sich so unmittelbar ein durch Oistrachs kompromissloses Spiel, dass es gleichsam die historische Distanz zum Filmseher zu überwinden scheint. Auch ihn ergreift die tiefe Erschütterung und Begeisterung des Moskauer Publikums.

Die Versenkung dieser Künstler in die Musik ist oft geradezu körperlich spürbar

Und noch ein drittes Beispiel aus dem überreichen Schatz musikalischer Dokumentationen der großen Meistermusiker des 20. Jahrhunderts - nur um ein paar unsterbliche Namen zu nennen: Jascha Heifetz und Vladimir Horowitz, Arturo Benedetti Michelangeli und Arthur Rubinstein, Glenn Gould und Nathan Milstein, Isaac Stern und Paul Tortelier, von Sängern und Sängerinnen wie Maria Callas, Jussi Björling, Lauritz Melchior, Birgit Nilsson oder Martti Talvela und anderen nicht zu reden. Natürlich gehören auch Dirigentenmonumente wie Wilhelm Furtwängler, Arturo Toscanini oder Bruno Walter, Fritz Reiner oder Leopold Stokowski dazu bis hin zu so außerordentlichen, erratischen und extremen Gestalten wie Carlos Kleiber oder Sergiu Celibidache.

Celibidache lehnte bekanntlich Studioaufnahmen und Audio-CDs als "tönende Pfannkuchen" ab, da sie dem Wesen der Musik, nämlich ihrem jeweiligen Verschwinden mit jeder Aufführung, grotesk widersprächen. Dass diese Ablehnung angesichts der Flut von Studioproduktionen etwas Don-Quijotehaftes hatte, war ihm sehr bewusst. Was jedoch Filmaufnahmen und -mitschnitte in seinen Proben und Konzerten anbelangte, hatte er von Beginn seiner Karriere an kaum Einwände: "Da sieht man wenigstens, wohin der Schlag geht!"

Auf diese Weise sind die ungeheure Intensität, Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart dieses Maestro assoluto und seine unbedingte Versenkung in die Musik glücklicherweise in den Filmen in gewisser Weise erfahrbar und oft geradezu körperlich spürbar. Der Dokumentarfilmer und Regisseur Jan Schmidt-Garre nutzte die Chance, Celibidaches späte Münchner Ära vielfältig zu dokumentieren. Darunter die Proben zu Anton Bruckners Messe f-Moll in den frühen Neunzigerjahren.

Darin gibt es einen Moment, der so komisch wie tiefsinnig ist. Es geht um ein Flötensolo, das der Soloflötist für Celibidache allzu buchstabengetreu bläst. Die Münchner Philharmonie ist fast halb besetzt mit Zuhörern, weil man bei Celibidache alle Proben gratis besuchen konnte. Außerdem sitzen Orchester, Solisten und Chor auf dem Podium. Doch der Dirigent ist so in die Probenarbeit vertieft, dass er dergleichen nicht bemerkt, denn er fordert den Spieler geradezu liebe- und vertrauensvoll zu mehr Phrasierungsfreiheit auf: "Max, ganz ruhig und frei spielen, wir beide sind allein!"

© SZ vom 25.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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