Festival zu Ehren von Wolfgang Rihm:"Nicht der Polizist meiner Noten"

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DIe "Leonkoros" schöpfen aus dem Vollen von jugendlicher Klanglust und feuriger Vitalität. (Foto: studio visuell)

Spurensucher und Spurenleser: Das Heidelberger Streichquartettfest fesselte mit aufregender Kunst. Im Zentrum stand der Komponist Wolfgang Rihm, der sich von der Wiederbelebung seiner Werke verzaubern ließ.

Von Harald Eggebrecht

Als der Moderator Oliver Wille nach dem möglichen Richtig oder Falsch beim Spielen von Wolfgang Rihms Quartetten fragt, kontert Rihm lachend: "Ich bin nicht der Polizist meiner Noten!" Der Komponist Wolfgang Rihm, der im März seinen 70. Geburtstag feiern wird, entwirft dann ein plastisches Bild für das Schicksal seiner Werke, seit sie aufgeführt werden: Es ergehe ihnen wie alten Pottwalen, sie seien übersät von den Narben und Schrunden der vielfachen Beschäftigung mit ihnen. Dazu zählen auch Rezeptionsmoden, die sich im Laufe der Zeiten ändern könnten und wohl auch müssten. Neue Klänge an sich seien noch keineswegs Kunst, vielmehr sei das Entscheidende: "Was folgt auf und aus was?"

Wille ist Kammermusikprofessor in Hannover und Intendant des ältesten deutschen Kammermusikfestivals in Hitzacker an der Elbe, geigt außerdem im weltbekannten Kuss-Quartett und managt dazu noch den Joseph-Joachim-Violinwettbewerb. Sein Gespräch mit Rihm war jenseits der großartigen Quartettauftritte der Mittelpunkt der vier Tage des diesjährigen Heidelberger Quartettfestes. Seit 2006 gibt es dieses besondere Festival für Streichquartette mit seiner festen Gemeinde, die sich weder von Corona-Auflagen noch von der diesmaligen Anreise zur "prosaischen" (Rihm) Rudolf-Wild-Halle in Eppelheim abschrecken ließ.

John Zorns "Memento Mori" ist ein schriller Bogen aus Wirrsalen und Attacken

Nachdem das Minguet-Quartett, das als erstes alle 13 Rihm-Quartette eingespielt hat und als Spezialisten-Team gilt, wegen eines Covid-Falls absagen musste, blieben fünf Ensembles. Das preisgekrönte amerikanische Jack Quartet gründete sich 2005 und widmet sich vordringlich neuer und neuester Musik. Präzision und Virtuosität verstehen sich von selbst, dazu kommt ein im besten Sinne "trockener" Klangcharakter, der keine Verwischungen oder Aufweichungen zulässt. Kühn stellten sie Rihms 3. Quartett "Im Innersten" Arrangements von Musik aus dem 14. und 16. Jahrhundert gegenüber, als es noch keine modernen Streichinstrumente gab und man mit Fünfteltönen und Rhythmusverschiebungen so irritierend experimentierte, dass man den Boden unter Füßen zu verlieren meint. Dazu John Zorns "Memento Mori" von 1992, ein schriller Hörbilderbogen der Überblendungen, Wirrsale und Attacken.

Das Quatuor Danel gibt es schon seit 1991, weltweit erfolgreich in einem Repertoire von Joseph Haydn bis zu neuester Musik. Das Ensemblespiel prägen Schwung, Spielfreude und Neugier, manchmal mit einem Anflug von Improvisation und der Freude am Risiko. Mit dem glänzenden Klarinettisten Thorsten Johanns entfalteten sie Rihms "Vier Studien zu einem Klarinettenquintett" als bezwingenden Weg durch eine fast bukolisch weiche und weite Landschaft, die zwanglos auch an die Klarinettenquintette von Mozart, Brahms oder Max Reger erinnerte. Leider mussten die "Danels" dann passen, weil auch einer ihrer Musiker positiv getestet wurde.

"Musik existiert nur, wenn sie gespielt wird": Wolfgang Rihm. (Foto: Studio Visuell/Heidelberger Streichquartettfest)

Seit 2009 musiziert das Goldmund Quartett, klanglich bestens ausbalanciert, stets fein und kultiviert im Ton, exzellent in der Durchsichtigkeit und raffiniert in der Klangmischung. Derzeit dürfen die "Goldmunds" auf den vier Stradivari-Instrumenten spielen, die einst Niccolò Paganini, der Geiger aller Geiger, für sich erwarb. Beklemmend abgründig bis ins Aschfahle gelang ihnen Rihms "Grave - in memoriam Thomas Kakuska", gewidmet dem verstorbenen Bratscher des legendären Alban Berg-Quartetts. Dagegen wirkte das 4. Quartett als energisch-emphatischer Aufbruch zu neuen Ufern.

Bleiben die beiden jüngsten Formationen, das 2017 gegründete Adelphi- und das 2019 gestartete Leonkoro Quartett. Die "Adelphis" gehören bei aller Intensität und Leidenschaft mehr zu denen, die nichts plakativ zu Markte tragen, ob sie Robert Schumanns Op. 41, 1 luftig-leicht spielen oder kurze Rihm-Stücke wie den kuriosen "Selbsthenker" nach Friedrich Nietzsche, die "Fetzen 1 und 2" oder dessen 2. Quartett darbieten, immer überlegt, etwas introvertiert, dabei durchaus mit Humor. Die "Leonkoros" schöpfen dagegen aus dem Vollen von jugendlicher Klanglust, feuriger Vitalität und mitreißendem Offensivdrang in Rihms 1. und 9. Quartett ebenso wie bei Schumanns op. 41,3 oder Antonin Dvoráks op. 106.

Die Kraft und Wirkung der Rihm-Stücke in ihren diversen Facetten veränderte überraschend auch den Zugang zur älteren Musik. Plötzlich vernahm man auch bei Beethoven oder Schubert, bei Schumann oder sogar Dvorák das Nebeneinander "extrem heißer und extrem kalter Klänge" (Rihm), die Heftigkeit der Kontraste, das "Weitergeben der Energie" innerhalb der Ensembles, die Spannung zwischen klanglicher Vertikale und melodiöser Horizontale.

Der Komponist von 13 gewichtigen Quartetten und etlichen Kurzstücken sitzt leibhaftig im Publikum und hört zu, wie seine Stücke unmittelbare Realität werden, um mit dem letzten Ton sofort wieder zu verklingen. Das forderte die Musiker besonders heraus, denn es gibt nichts Größeres, als ein Stück vor dem aufzuführen, der es erfunden hat. Es war eine magische Situation, die Urszene des musikalischen Dreifußes: Einer hat komponiert, andere spielen das Komponierte, und es hören Menschen zu, darunter der Kreator des Stückes. Das spannte alle an, doch Wolfgang Rihm blieb gelassen und neugierig, die Wiederbegegnung mit eigenen Stücken genießend: "Sie hören jetzt ganz alte Musik, 52 Jahre alt!", ruft er ins Publikum bei der Eröffnung. Nach dem Konzert mit drei Stücken aus verschiedenen Schaffensphasen weist er darauf hin, man habe nun gleichsam drei verschiedene Komponisten kennen gelernt.

Ideen bekommt man, wenn man schon welche hat, sagt Rihm

"Musik existiert nur, wenn sie gespielt wird!" Sie sei kein Gegenstand, man könne sie nicht betrachten, nicht anfassen, und doch sei sie körperlich anwesend im Augenblick der Aufführung, um dann sogleich wieder zu verschwinden. Der mächtige Mann staunt vergnügt über dieses seltsame Wesen, das sich nie dingfest machen lässt. Aber das sofort wieder Gegenwart ist in der Aufführung. Oliver Wille fragt, wann die besten Ideen kämen? Rihm darauf: "Am besten, wenn man schon welche hat!" Die Mischung aus Geist und Witz beschwingt alle im Raum.

Freude am Risiko, bukolisch weicher Klang: Das Quatuor Danel. (Foto: Studio Visuell/Heidelberger Streichquartettfest)

Nichts Gelehrtes wird abgehandelt, sondern Rihm kreist sich selbst aus dem Moment heraus mal ironisch, mal nachdenklich, mal pointierend ein: Er sei einer der wenigen, der noch selbst komponiere, alles per Hand niederschreibe und keine Schreibprogramme benutze. Er arbeite intuitiv und sei oft selbst überrascht, was da entstehe, und wohin ihn das Stück führe. "Ich bin eine Art Sucher und Gärtner, ein Spurenleger und Spurenleser." Wann er wisse, dass ein Stück zu Ende sei? "Man spürt, man weiß nicht, wann es zu Ende ist." Man müsse sich der "Unvorhersehbarkeit des Materials stellen".

Solche Formulierungen fesseln in der Mischung aus Offenheit und Verrätselung. Dennoch ahnen alle, dass mit noch so poetischen und originellen Sprachbildern und Worten der Musik nicht beizukommen ist, sondern sie sich solchen Versprachlichungen entzieht. Man muss sie schon erleben, am besten mit dem Komponisten und den Spielern im selben Raum.

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