Gerade noch hat Teodor Currentzis vor dem mit 85 Jahren fast doppelt so alten Komponisten Helmut Lachenmann dessen "...zwei Gefühle..." tanzend dirigiert, da kommt ein Mann aus einer ganz anderen Welt auf die Bühne. In den Händen hält er ein befremdliches Rieseninstrument, das aussieht, als hätte die immer fürs Skurrile begeisterte Künstlerin Louise Bourgeois einen ihrer Albträume materialisiert. Das Monstrum sieht unten harmlos wie eine Laute aus, darüber schlängeln sich an einem schier endlosen Extrahals Basssaiten. Sobald Axel Wolf die ersten Töne auf seiner Theorbe anschlägt, geschieht ein Wunder. Denn die leisen, schier nur aus flirrenden Ober- und Resonanztönen bestehenden Klänge der Theorbe, sind erstaunlicherweise überall im 2100 Plätze fassenden Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle zu hören. In dem der Seuchenvorschriften wegen aber nur 500 staunende Menschen das Saisoneröffnungskonzert der SWR-Sinfoniker erleben können.
"Weepe you no more, sad fountains": Während Axel Wolf dieses Lied von John Dowland intoniert, diesem hinreißenden Renaissancelautenkomponisten, kauern Currentzis und die immer und zu jeder Grenzüberschreitung bereitete Geigerin Patricia Kopatchinskaja auf dem Bühnenboden und singen leise und zusätzlich gedämpft durch ihre Seuchenmasken hindurch die beiden Strophen, manche SWR-Musiker beteiligen sich an den Zwischenspielen. Es ist ein magischer Moment der Trauer. Da trauert nicht nur ein heulender Lover über seine vielleicht untreue oder an ihm uninteressierte oder vielleicht sogar tote Liebste, der Text lässt jeder dieser Deutungen zu. Da trauern auch die hier auftretenden Musiker über die von Tag zu Tag prekärer werdende Situation für die meisten ihrer Musikerkollegen, die schon seit einem halben Jahr oft gar keine Möglichkeit haben zu konzertieren und damit Geld zu verdienen. Dann steht Kopatchinskaja auf, nimmt die Geige und stürzt sich mit dem wieder engagiert und wild die Musik vortanzenden Currentzis in die Uraufführung von Dmitri Kouliandskis kurzem Geigenkonzert "Possible Places", in dem sich Ordnung und Chaos eine zunehmend apokalyptische Schlacht liefern.
Das Programm zeigt, wie die Klassik und ihr Konzertwesen sich in die Zukunft entwickeln könnten
Als Currentzis vor zwei Jahren die Leitung der Sinfoniker des Südwestrundfunks übernahm, war das eine Sensation. Der Dirigent ist der Popstar seiner im Bürgerlichen befangenen Zunft, der sein Outfit genauso wie Parfums kreiert, komponiert und von der Renaissance bis zur Moderne jede Musik wie ein Medium durchdringt. Ob Wolfgang A. Mozart. Gustav Mahler, Pjotr Tschaikowsky, Jean-Philipe Rameau oder Lachenmann: Selbst die sperrigste und komplizierteste Musik klingt bei Currentzis einleuchtend sinnlich, auch aufgrund seines musikantischen Temperaments, das ihn mit der gleichgesinnten Kopatchinskaja verbindet.
Das jetzige SWR Orchester entstand 2016 in Folge der von heftigen Protesten begleiteten Fusion der beiden Senderorchester in Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg. Dass dieses aufgeblähte Fusionsorchester dann Currentzis als Chef gewinnen konnte, war ein Coup. Doch in Stuttgart ist künstlerisch in der Klassik sehr viel mehr möglich als etwa in München, die Neugierde des Publikums ist einfach größer. Dieses Programm jedenfalls würde keines der sich regelmäßig in der Langeweile der Tradition selbstbespiegelnden großen Münchner Orchester zum Saisonauftakt machen. Mit seinem verspielten Schweifen durch die Jahrhunderte zeigt dieses Programmeine berauschende Möglichkeit, wie die Klassik und ihr Konzertwesen sich in die Zukunft entwickeln könnten.
Neugier ist auch ein zentrales Motiv in Lachenmanns "...zwei Gefühle...", einem der am häufigsten gespielten Stücke des Meisters. Er vertont zunehmend karger und gespannter eine Vision Michelangelos angesichts einer dunklen Höhle. Die macht ihm Furcht, gleichzeitig ist da das Verlangen zu sehen, was an Wunderbarem darin verborgen sein könnte. Furcht mag auch manche Hörer ankommen angesichts eines Programms mit drei Avantgardekomponisten (der dritte ist der Eigenbrötler Giacinto Scelsi) und dem barocken Auftreiber Heinrich Ignaz Franz Biber. Dessen berühmte Schlachtenmusik beschreibt in acht oft komischen Miniaturen, wie sich die Krieger rüsten, in einem quäkenden Charivari Mut ansaufen, sich malträtieren und zuletzt ihre Verletzungen bejammern. Kopatchinskaja macht bei diesem Karnevalsstück mit kindlichem Übermut mit, findet dann aber bruchlos in die lyrisch meditativen Klänge in Scelsis "Anahit", einem ruhigen Jubelgesang an die Liebesgöttin Venus.
Scelsis Glaube an die transzendentale Kraft der Töne formuliert den Gegenentwurf zu Lachenmann, der lange Zeit seines Komponistenlebens und auch in diesem Stück den Tönen misstraute, sie durch Geräusche ersetzte, ihnen eine ungeahnte Schönheit verlieh und dadurch zugleich seinen Protest gegen den gängigen Musikbetrieb betonte. Im Alter ist Lachenmann klangsinnlicher geworden, hat zunehmend seinen Frieden mit den gewöhnlichen Tönen gemacht. Dass diese Wendung nicht überraschend kam, zeigt der vergnügt vor dem Komponisten tanzende Currentzis, der mit diesem Sonderklassenabend wieder einmal unterstreicht, der aufregendste Dirigent weltweit zu sein. Ohne Dirigentenstab oder Dirigentenpult.