Klassik:Bassgewitter mit iPad

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Der Cellist Matt Haimovitz ist nur selten in Europa. Jetzt spielte er Bachs Soli samt den neu komponierten Ouvertures in der Villa Papendorf.

Von Harald Eggebrecht

"Das Cello rührt auf tiefer, unergründlicher Ebene an unser Gefühl", so hat Yehudi Menuhin einmal das Unverwechselbare des Instruments beschrieben, das quasi gleich drei Klangwirklichkeiten in sich vereint: die Diskantregion der Violine, die Tenor- und Altlagen in der Mitte und die Tiefen der Bariton- bis Bassregister. Große Cellisten vermögen sich in diesen drei Welten so zu bewegen, dass eine einzige, eben die des Violoncellos, daraus wird.

Es müssten nicht immer Carnegie Hall und Berliner Philharmonie sein, um gut Musik zu machen

Als Matt Haimovitz im Salon der Villa Papendorf die Schlussfiguren der Gigue aus der 5. Suite in c-Moll von Johann Sebastian Bach fast tonlos ins Düstere verlöschen lässt, ist Menuhins Charakteristik des Violoncellos und seines Geheimnisses geradezu magisch verwirklicht. Haimovitz' Ton und Spiel bevorzugt die dunklen Klangwelten, ohne deswegen auf Licht und Energie in den mittleren und hohen Lagen zu verzichten. Doch seine gesamte Tonvorstellung ist zuerst gewissermaßen bassbaritonal orientiert so wie bei kaum einem anderen der gegenwärtigen Großmeistern des Violoncellos. Er gewinnt daher seine tonliche Leuchtkraft und Artikulationsdeutlichkeit aus den Tiefen des Celloklangs und baut darauf seine ungemein lebendige, sprechende, abwechslungsreiche Kunst der Phrasierung auf. Nichts wirkt da festgelegt oder brav einstudiert, sondern die Darstellung der Musik klingt beweglich, von Neugier und Frische des Zugriffs erfüllt.

Kaum zu glauben, dass die einzigartige Klangvielfalt des Violoncellos so richtig erst die Tonsetzer des 20. Jahrhunderts inspiriert hat. Ausnahmen wie Luigi Boccherini und Joseph Haydn im 18. Jahrhundert, Robert Schumann, Camille Saint-Saëns und vor allem Antonin Dvořák im 19. Jahrhundert bestätigen diese Regel. Denn weder Wolfgang Amadé Mozart noch Ludwig van Beethoven (trotz seiner fünf Klavier-Cello-Sonaten), weder Felix Mendelssohn-Bartholdy noch Johannes Brahms (trotz ihrer jeweils zwei Klavier-Cello-Sonaten) haben ein Konzert für das so "unergründlich" das Gefühl berührende Instrument geschrieben. Zum Glück aber können alle Cellospieler stolz und damit auf Augenhöhe mit Pianisten und Geigern auf ihr Altes Testament, "our Bible", wie auch Matt Haimovitz sagt, verweisen: die sechs Solosuiten von Johann Sebastian Bach.

Haimovitz wurde 1970 in Israel geboren, wanderte mit den Eltern sechs Jahre später nach Kalifornien aus und wurde in den USA vor allem von Leonard Rose ausgebildet, bei dem auch Yo-Yo Ma studiert hat. Haimovitz ist ein seltener Gast auf deutschen Podien, mit seinen Ideen vom Musizieren und Auftreten meidet er im Großen und Ganzen die Hauptstraßen des Betriebs: Es müssten nicht immer Carnegie Hall und Berliner Philharmonie, Salzburg und Tokio sein, um gut Musik zu machen.

Insofern bot die intime Atmosphäre der Jugendstilvilla Papendorf nahe bei Rostock die geradezu ideale Möglichkeit, diesem außergewöhnlichen Künstler zu begegnen und ganz aus der Nähe zu studieren. Er hatte sich auf den langen Weg vom kanadischen Montreal, wo er eine Professur innehat, mit zwei Celli gemacht, allerdings aus gutem Grund. Bach hat nämlich seine sechste Suite dem Violoncello piccolo zugedacht, das über die üblichen vier Saiten hinaus noch eine fünfte besitzt. Von Papendorf ist er dann im Mietwagen - "es ist schön, durch die verschiedenen Landschaften Deutschlands vom Meer bis zu den Bergen zu reisen" - weiter nach Weimar und in die Elmau gefahren, bevor es zurück nach Kanada ging. Im Juni wird er in Berlin auftreten mit einer Orchesterfassung von Franz Schuberts "Arpeggione"-Sonate.

Haimovitz hat nach glänzenden Anfangserfolgen durch die großen Konzertsäle rund um die Welt einen eigenwilligen Weg eingeschlagen. Er hat Bach in Nachtclubs und Einkaufscentern quer durch die US-Staaten gespielt oder sich einfach in den New Yorker Central Park gesetzt mit seinem Matteo Goffriller-Cello von 1710. Das habe er dieses Mal nicht dabei, denn: "Beim Unterrichten stehe ich auf, will dem Studenten etwas zeigen, verliere mit dem Cello in der Hand die Balance und stürze auf das Instrument!" Der Hals sei aus dem Korpus gebrochen, zum Glück glatt. Aber die Reparatur dauert Monate. Hier spielt er auf einem Grancino-Instrument und eben auf dem Fünfsaiter für die 6. Suite.

In den Neunzigerjahren hat er einige zeitgenössische Stücke aufgenommen, darunter erstmals die Solosonate von György Ligeti unter dessen Anleitung. "Zu dieser Aufnahme greift daher wohl jeder Student zuerst", sagt der glänzende Cellist Valentin Radutiu, der Haimovitz hier live erleben will. Während des Einspielens im fast hundert Personen fassenden Salon der Villa zeigt Haimovitz, wie er eine bestimmte Sprungstelle in Ligetis Sonate einst für unlösbar hielt: "Ich spielte ihm das vor, wies auf die Unmöglichkeit hin. Ligeti nahm die Brille ab und sagte, practice, einfach üben!" Er lacht : "Heute kann ich mir nicht mehr vorstellen, dass es mal für mich unspielbar schien!"

"Ich liebe es, aus der Handschrift zu spielen, auch wenn ich die Suiten auswendig kann"

Haimowitz, gedrungen, kräftig, ist frei von Eitelkeit. Er sitzt vor einem am Notenständer befestigten I-Pad, zu sehen ist darauf die Abschrift der Suiten von der Hand Anna Magdalena Bachs: "Ich liebe es, direkt aus der Handschrift zu spielen, auch wenn ich die Suiten auswendig kann." Er weist auf Details hin: "Hier, in der Gigue der Fünften, gibt es eine spezielle Trillerkette über zwei Tonschritte hin. Anna Magdalena schreibt da eine kleine Zickzacklinie drüber. Sonst steht für Triller immer das Kürzel ,tr' über der Note, hier nicht. Es soll also eine Steigerung aus dem Trillern heraus sein." Er führt den Unterschied vor, zuerst zwei korrekte Triller nebeneinander, doch dann jene sich intensivierende expressive ununterbrochene Trillerkette auf den Höhepunkt zu, wie in der Handschrift angedeutet.

Haimovitz spielt nicht nur drei Suiten, sondern auch drei moderne "Ouvertures". Er hat für alle Suiten sechs amerikanische Komponisten beauftragt, sich von je einer Suite inspirieren zu lassen. So hat Philip Glass zur ersten in G-Dur eine gelassenes, Bach aufgreifendes Entré geschrieben, während Vijay Iyer, von indischen Eltern abstammend, in seiner "Ouverture" zur 3. Suite C-Dur seine Erfahrungen als Jazzpianist einbringt und Avantgarde, Groove, Pop und auch indische Musik verbindet. "Als ich sein Stück vor mir hatte, war ich entsetzt, impossible!" Es gab keinerlei Bezeichnungen oder Anweisungen, nichts, "woran ich mich hätte festhalten können!" Doch der Komponist reagierte wie einst Ligeti, bei Bach stünde doch auch nichts außer den Noten und er, Haimovitz, habe sich damit zurecht gefunden. Also hat sich der Cellist seinen eigenen Weg durch dieses rhythmisch vertrackte, mit leeren Saiten, Flageoletts und anderen Obertoneffekten spielende Stück gebahnt. Als er es im Konzert vorträgt, Klänge wie auf einer Glasharmonika hinzaubert, bricht ungläubiger Beifall über soviel Klangraffinement und Virtuosität spontan los.

Zur düsteren 5. Suite in c-Moll, in der Bach eine Umstimmung der A-Saite um einen Ganzton nach unten auf G verlangt, hat der Bandleader, Posaunist und Komponist Dan Sanford, Jahrgang 1963, eine nochmals abgedunkelte Ouverture geschrieben. Er lässt die tiefe C-Saite noch um einen Halbton herabstimmen und entfacht richtige Bassgewitter auf dem Cello, rhythmisch vital und exzessiv.

"Warten Sie einen Moment", ruft Haimovitz in den Beifall nach seiner denkwürdigen Darstellung der 5. Suite, "ich hole rasch das fünfsaitige Cello für etwas mehr Licht!" Und dann erstrahlt die Villa vom leuchtenden hellen D-Dur der sechsten Bach-Suite.

© SZ vom 25.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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