Kino:Polizisten statt Aliens

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Von wegen Geschichtsverfälschung: Roland Emmerich ist mit "Stonewall" ein richtig guter Film über einen der wichtigsten Emanzipationsmomente der Schwulen- und Transgenderbewegung gelungen.

Von Patrick Heidmann

Wie sehr das Internet mit seinen sozialen Netzwerken die mediale Rezeption von Filmen verändert, lässt sich dieser Tage bestens ablesen am Beispiel von "Stonewall". Der neue Film von Roland Emmerich feierte am vergangenen Freitag auf dem Toronto International Film Festival seine Weltpremiere, doch online ist er schon seit Wochen ein Thema.

Anfang August wurde der erste Trailer zu "Stonewall" veröffentlicht, und während diese kleinen Vorschauen früher kaum mehr waren als ein bisschen Werbung vorab, werden Internet-Trailer inzwischen als Event zelebriert und entsprechend be- oder auch verurteilt. Viel zu feiern hatten die Fans in Emmerichs Fall zunächst einmal allerdings nicht. Wütende Kommentare verbreiteten sich nach Veröffentlichung der ersten Ausschnitte auf Twitter und Facebook, auf Youtube klickten mehr Menschen den "mag ich nicht"-Button als das positive Gegenstück, und Dutzende Blogs und Webseiten mit homo- und transsexuellem Schwerpunkt widmeten dem Clip aufgebrachte Artikel.

Whitewashing lautete der Vorwurf an Emmerich und seinen Film, der von jenem Aufstand im Juni 1967 handelt, bei dem es nach einer Razzia in der Gay-Bar Stonewall Inn in der New Yorker Christopher Street zu tagelangen Auseinandersetzungen zwischen Hunderten Schwulen, Lesben und Transsexuellen und der Polizei kam. "Stonewall", so das nahezu einhellige Urteil, würde die historische Wahrheit verfälschen und die Beteiligung von Afroamerikanern, Latinos, Drag Queens, Lesben und Transsexuellen an diesem Wendepunkt der queeren Bürgerrechtsbewegung (dessen heute noch jedes Jahr mit den Christopher Street Days und Gay Pride Paraden gedacht wird) zugunsten eines jungen weißen Schwulen ausblenden.

Vorab wurde geunkt, "Stonewall" betreibe "Whitewashing". Der Vorwurf fällt schon beim Betrachten der ersten Szenen des Films in sich zusammen. (Foto: Philippe Bosse)

"Das war für mich eine neue, verblüffende Erfahrung, dass so viele Leute so schnell über einen Film urteilen, den noch niemand gesehen hat", gibt Emmerich im Rückblick zu Protokoll, nur wenige Stunden nachdem sein Film in Toronto erstmals der Presse gezeigt wurde. Ganz unerwartet dürfte ihn die Kontroverse aber nicht getroffen haben: In Zeiten, in denen jede Comic-Verfilmung einen Shitstorm unter wütenden Fans auslösen kann, muss man bei einem derart emotional besetzen historischen Stoff mit leidenschaftlichen Reaktionen rechnen. Zumal in einem Jahr, in dem Rassismus und Transsexualität den gesellschaftlichen und popkulturellen Diskurs der USA stärker prägen als jedes andere Thema. "Mir wurde geraten, einen zweiten, anders gelagerten Trailer hinterherzuschieben, aber dazu sah ich keine Veranlassung", erklärt der Regisseur seinen Umgang mit der Situation. "Ich fand es stattdessen gar nicht so verkehrt, dass alle Welt schon Wochen vor dem Kinostart über meinen Film redet."

Wie groß die Aufmerksamkeit für "Stonewall" tatsächlich ist, war in Toronto nun unschwer zu erkennen. Nicht wenige Journalisten verschoben eigens ihre Abreise, als bekannt wurde, dass die Premiere erst am vorletzten Tag des Festivals stattfinden würde. Der Andrang bei der Pressevorführung war dann so groß, dass Dutzende Journalisten wegen Platzmangels unverrichteter Dinge wieder von dannen ziehen mussten. Am Ende eines Festivals, bei dem kaum ein Beitrag leidenschaftliche Diskussionen ausgelöst hatte, war der Film zum Trailer der Gesprächsstoff Nummer eins.

Klar ist das à la Emmerich erzählt: Held mit Trauma wächst über sich selbst hinaus. Na und?

Dass der Applaus am Ende dann wohlwollend ausfiel, dürfte nicht zuletzt mit der beruhigenden Erkenntnis zu tun haben, dass ein Film eben doch mehr ist als sein Trailer. Davon, dass "Stonewall" außer schwulen Männern keine Minderheiten der LGBTQ-Community zeige, kann nicht wirklich die Rede sein. Das frisch in New York angekommene Landei Danny (Jeremy Irvine) mag im Zentrum der Geschichte stehen, und ja, bei Emmerich ist er es, der während des Aufstands - in einer Mischung aus neu erwachtem politischem Engagement und gebrochenem Herzen - den ersten Ziegelstein wirft, auch wenn es historisch nicht belegt ist, wer dies in Wirklichkeit tat. Aber auch in diesem ersten großen Spielfilm zum Thema ist es eine lesbische Frau, die mit dem Widerstand gegen ihre Verhaftung die Unruhen überhaupt auslöst. Auch der transsexuellen Aktivistin Marsha P. Johnson (gespielt von Otoja Abit) und einem schwarzen Stricher kommen tragende Nebenrollen zu, ganz zu schweigen davon, dass der hispanisch-stämmige Jonny Beauchamp als sich allen Geschlechterkonventionen widersetzende Ray heimlicher Star des Films ist.

Ohne Frage hätte es auch andere Wege gegeben, "Stonewall" zu inszenieren, rauer, subtiler, mit ein paar Klischees weniger. Doch dies ist nun einmal ein Emmerich-Film, auch wenn das Budget verglichen mit seinen sonst üblichen Blockbustern bescheiden ausfiel und großteils aus eigener Tasche stammte. Seine Erzählstrategie ist die gleiche wie sonst in "Independence Day" oder "The Day After Tomorrow": Ein in warmen Sonnenglanz getauchter und von einem Trauma gequälter Held wächst gegen alle Widerstände über sich hinaus, nur dass er statt gegen Aliens oder Naturgewalten nun gegen Homophobie und Polizeigewalt kämpft. Noch nie hat ein Mainstream-Film eine derart dezidiert queere (und von heterosexuellen Identifikationsfiguren freie) Geschichte für ein an den heteronormativen Erzählkonventionen Hollywoods geschultes Publikum auf die Leinwand gebracht. Das muss nicht jedem gefallen, ist aber in jedem Fall bemerkenswert. Und der Konsequenz und Leidenschaft, mit der Emmerich sein Herzensprojekt als Denkmal für all die namenlosen Stonewall-Helden bis hin zum emotional zweifellos effektiven Ende umsetzt, kann man ohne Frage Respekt zollen.

© SZ vom 21.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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