Kino-Nachruf:Der Chief

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Oscargewinner und Unruhestifter in vielen Systemen: Mit dem Tod des tschechisch-amerikanischen Filmemachers Miloš Forman verliert das Kino einen seiner großen Freiheitskämpfer.

Von Tobias Kniebe

Ein Mann verschwindet, in den frühen Morgenstunden, in den Wäldern Oregons. Er ist im leichten Laufschritt unterwegs, aber ohne Hast. Sanft geschwungene Hügel mit Tannen liegen vor ihm, in der Ferne sieht man Berge, in dichte Wolken gehüllt. Doch eigentlich ist es zu düster, um viel zu erkennen. Bald leuchtet nur noch die helle Hose des Mannes aus der Nacht, dann wird auch sie von der Dunkelheit verschluckt.

Warum muss man gerade an dieses Verschwinden denken, bei der traurigen Nachricht, dass der Regisseur Miloš Forman im Alter von 86 Jahren in seiner Wahlheimat Connecticut gestorben ist? Natürlich: Schlussszene, Abschied, Aufbruch ins Ungewisse. Aber da ist noch mehr. Dieser Moment, in dem Chief Bromden, der von Will Sampson gespielte, hünenhafte, nur scheinbar stumme Indianer in dem Film "Einer flog über's Kuckucksnest", aus der Psychiatrie in die Freiheit entkommt - das ist nicht nur die größte Szene, die Miloš Forman geschaffen hat. Es ist eines der ewigen, unauslöschlichen Schlussbilder des Kinos überhaupt.

Beim Wiedersehen jedoch wirkt das Bild ganz einfach und schlicht. In jeder Best-of-Montage würden diese wenigen dunklen Sekunden vollkommen untergehen. Forman ging es nie darum, das wird hier klar, sich mit Showeffekten zu profilieren, den Moment zu melken, die Emotion zu blähen. Alles bei ihm ist Kontext, Hinführung, Steigerung, Aufladung. Jede einzelne Szene in "Kuckucksnest" führt zu diesen finalen Momenten hin und bereitet ihn sorgfältig vor. Am Ende braucht der Mann nur noch seine Kamera aus dem Fenster in die Dunkelheit zu halten, um uns für immer ins Herz zu treffen. Wenn das mal keine Machtdemonstration ist.

Für diese seine Kunst ist Miloš Forman zeitlebens angemessen gefeiert worden. "Kuckucksnest" etwa gewann bei den Oscars 1975 in allen fünf Hauptkategorien, als erst zweiter Film überhaupt. Ein weiterer Karrierehöhepunkt kam für ihn knapp zehn Jahre später, als er Peter Shaffers Bühnenstück "Amadeus" auf die große Leinwand brachte und Mozarts Musik mit dem Zeitgeist der Achtzigerjahre kurzschloss - acht Oscars folgten. Er war oft gut darin, seine Geschichten in die größeren Strömungen der amerikanischen Gegenwart einzuspeisen: Der antiautoritäre Aufbruch der frühen Sechziger, aus dem die Romanvorlage von Ken Kesey stammt, ist noch sehr präsent in "Kuckucksnest"; beginnendes späthippieskes Selbstmitleid durchtränkt die Musicalverfilmung "Hair" (1979); und in den spermafleckigen Clinton-Jahren wirkte Forman dabei mit, eine strategische Front gegen die neue Prüderie von rechts aufzubauen, in "Larry Flynt - Die nackte Wahrheit (1996), einer Filmbiografie des Hustler-Herausgebers.

Der jüdische Architekt und Holocaust-Überlebende Otto Kohn war sein leiblicher Vater

Sein politisches Bewusstsein ist immer präsent, und es stammt ohne Zweifel aus seiner Kindheit in der Nazizeit, seinen frühen Jahren im Kommunismus und der Erfahrung der Emigration nach dem Prager Frühling 1968. Als Jan Tomáš Forman wurde er 1932 im tschechischen Čáslav geboren. Seine Eltern Rudolf und Anna Forman waren im Untergrund gegen Hitler aktiv und starben in Konzentrationslagern - die Mutter wurde, als er zehn Jahre alt war, von der Gestapo abgeholt. Bis ins Erwachsenenalter glaubte er, seine Herkunft sei protestantisch-antifaschistisch, erfuhr dann aber, dass tatsächlich der jüdische Architekt und Holocaust-Überlebende Otto Kohn sein leiblicher Vater war.

Nach dem Krieg besuchte er ein Eliteinternat, zu seinem Mitschülern zählten der spätere Dichterpräsident Václav Havel und die künftigen Filmemacher-Freunde Ivan Passer und Jerzy Skolimowski. Sein Widerstandsgeist, in der Kindheit geweckt, machte dann aber auch vor den Parteioberen des Kommunismus nicht halt - ein Schulverweis in den Akten erlaubte ihm, glücklicherweise, nur das Studium an der Filmakademie. Frühe Filme wie "Schwarzer Peter" oder "Die Liebe einer Blondine", beide 1964, gerieten ihm zwar nicht offen systemkritisch, waren aber doch so sehr an Laiendarstellern, Alltagsgeschichten und dem realen sozialistschen Leben interessiert, dass die Zensoren Bedenken bekamen. Diese ließen sich durch Verbindungslinien zu den weltweiten neuen Kinowellen und erste Aufmerksamkeit in Locarno, Venedig und bei den Auslandsoscars zunächst beschwichtigen, aber bei "Der Feuerwehrball" (1967, siehe auch Mediaplayer) war es so weit - ostentativ sucht der Film nur deftige Drolligkeit, aber sein herzliches Lachen über Kleptokratie und Provinzsexismus führte nach drei Wochen zum Verbot durch die Partei. Forman, der ohnehin schon internationale Projekte plante, ging in die USA.

Seinen großen Themen konnte er dort treu bleiben: Repression, Autoritätsgläubigkeit und die komische wie auch fatale Unterdrückung der Sexualität gibt es ja nicht nur im Sozialismus. Randle McMurphy alias Jack Nicholson aus dem "Kuckucknest" wurde dann der erfolgreichste Agent, den Forman gegen ebendiese Kräfte ins Feld schickte. McMurphy ist es, der Chief Bromden in der Psychiatrie die ersten Worte entlockt, der ihm Fluchtpläne einflüstert und den größenwahnsinnigen Plan entwickelt, die marmorgefasste Armaturenkonsole aus dem Hydrotherapieraum aus ihrer Verankerung zu reißen.

Was macht es schon, dass er viel zu schwach dafür ist, dass das System in seinem Fall eiskalt die Oberhand behält? Es geht um Inspiration, es geht darum, Ideen in anderen zu wecken, die sich dann nicht mehr aufhalten lassen. Das macht den Moment so groß, wenn der Chief schließlich die Konsole durchs Fenster schleudert und in den Wäldern Oregons verschwindet. Und es macht Miloš Forman so groß, der am Freitag im Danbury Hospital in Connecticut in die sanft geschwungenen Hügel des Jenseits aufgebrochen ist. Der Chief wird dort sicher auf ihn warten.

© SZ vom 16.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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