Kino:Birkenstock war gestern

Lesezeit: 3 min

Die Tragikomödie "Jahrhundertfrauen" erzählt von der Punk-Revolution im Kalifornien der Siebziger - ein berührender Film.

Von Annett Scheffel

Wie bekommt man das Leben in einen Film? Diese seltsam schöne, chaotische, unberechenbare Aneinanderreihung von Menschen und Orten, Momenten und Gefühlen? Diese Frage bestimmt die biografischen Kinowelten des Filmemachers Mike Mills. Der Amerikaner ist als Grafikdesigner und Videoclipregisseur bekannt geworden, hat für die Beastie Boys und Sonic Youth Plattencover entworfen und für Air Musikvideos gedreht. Dann begann er, sein eigenes Leben auf Spielfilmlänge zu verdichten: sein Teenager-Ich, seine Eltern, seine unkonventionelle Erziehung.

"Beginners" zum Beispiel erzählte die Geschichte seines Vaters, der sich nach dem Tod seiner Frau und mehr als 40 Ehejahren mit 75 als schwul outete. Christopher Plummer erhielt für die Rolle 2011 den Oscar, und schon damals ahnte man, dass die zarte, warme Aufrichtigkeit dieser Figur nicht nur mit dem exzellenten Schauspieler, sondern vor allem mit Mills' Drehbuch zu tun hatte, mit der Schonungslosigkeit, mit der er seine Lebensgeschichte vor dem Publikum ausbreitet. Nach dem Vater widmet sich Mills nun in "Jahrhundertfrauen" seiner freigeistigen Mutter. Eine Geschichte aus der Zeit, als er selbst an der Schwelle zum Erwachsenwerden stand.

Sich zu fragen, ob man glücklich ist, sei der direkte Weg in die Depression, findet die Mutter

Im Kalifornien der späten Siebziger ringt Dorothea Fields (Annette Bening) mit der Erziehung ihres 15-jährigen Sohns Jamie. Kette rauchend und zwischen New-Age-Neigung und elterlichem Kontrollimpuls hin- und hergerissen, wandelt die eigenwillige Single-Mutter in ihren Birkenstock-Sandalen durch den Alltag. Sie schmeißt provisorische Dinnerpartys und blickt sorgenvoll auf ihren Sohn Jamie. Was weiß sie, Jahrgang 1924, von diesen neuen Zeiten, in die ihr Sohn ihr jeden Tag weiter zu entgleiten scheint? Die Geschichte mache es den Männern nicht leicht, sagt sie einmal, sie könnten nicht mehr sein, was sie waren, hätten aber auch noch nicht raus, wohin es gehen soll.

Um Jamie beim Mannwerden zu helfen, überredet Dorothea zwei junge Frauen, ihr bei der Erziehung zu helfen: die Fotografin Abbie (Greta Gerwig), die an Gebärmutterhalskrebs erkrankt ist und als Untermieterin bei den Fields wohnt; und die leicht depressive Nachbarstochter Julie (Elle Fanning), Jamies Freundin aus Kindheitstagen, in die er verliebt ist. "Braucht man nicht einen Mann, um einen Mann zu erziehen?", fragt die verdutzte Julie. Nein, entgegnet die Mutter bestimmt, das denke sie nicht. Außerdem interessiert sich Jamie ohnehin sehr für die Punk-Platten und die feministische Literatur, die er von Abbie zugesteckt bekommt. Bald wird sein neues Wissen um weibliche Komplexitäten und klitorale Stimulation zu einer Prügelei mit einem anderen Jungen führen.

Es ist die große Stärke von "Jahrhundertfrauen", dass sich aus den Themen, die Jamie umkreist - Sex, Mutterschaft, der weibliche Körper - erstaunlich authentische Frauenfiguren entwickeln. Mit präziser Genauigkeit beleuchtet Mills ihre Ängste. Allen voran Dorothea: Deren Charakterporträt vereint einen ganzen Katalog an Widersprüchlichkeiten in sich, mütterliche Wärme, Ruppigkeit, Selbstironie, Sperrigkeit. Sich zu fragen, ob man glücklich ist, meint sie einmal zu Jamie, sei bloß eine Abkürzung in die Depression.

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Neben den fantastischen Figuren spielt aber noch etwas Anderes, viel Größeres und Unübersichtlicheres die heimliche Hauptrolle, und zwar das 20. Jahrhundert (weswegen die Eindeutschung des Originaltitels "20th Century Women" etwas unglücklich ist). Mills verwebt seine Patchwork-Familiengeschichte in einen Strom aus kulturellen und politischen Details und lässt sie im Schwellenjahr 1979, zwischen Ende des Vietnamkriegs und Beginn der Reagan-Ära, miteinander kollidieren. Dorotheas Kindheit in der Zeit der Großen Depression und die neuen feministischen Lebensentwürfe, die Jazz-Schmachter ihrer Jugend und neue kantige Punkrock- und New Wave-Musik. Die Popkultur wird hier zu einem komplexen, biografischen Spiegelbild.

So entspinnt sich "Jahrhundertfrauen" als Zeitenporträt, das Mills keiner klassischen Handlung unterwirft. Stattdessen hangelt er sich detailversessen an einer langen Reihe von Alltagseinblicken entlang, Anekdoten, Sichtweisen, seelische Verfassungen, Nachrichtenbilder, psychedelische Bildmontagen. Passiert ist am Ende sehr viel: Man hat gesehen, wie Menschen leben, worüber sie streiten, was ihnen wichtig ist, woher sie kommen und wohin sie gehen. Und man hat gesehen, wie kompliziert sie sind, wie wunderbar und verwirrend. Ein Film über die Unberechenbarkeit des Lebens.

20th Century Women , USA 2016 - Regie und Buch: Mike Mills. Kamera: Sean Porter. Mit: Annette Bening, Lucas Jade Zumann, Elle Fanning, Greta Gerwig, Billy Crudup. Splendid, 119 Minuten.

© SZ vom 22.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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