Kinderbücher:Die Marktlücke Neugier

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Ein Verlag aus Los Angeles verwandelt Literaturklassiker von Jack Kerouac oder Ernest Hemingway in kindgerechte Kurzfassungen ihrer selbst. Kinder sollen damit zum Lesen animiert werden - und als Erwachsene zum Original greifen.

Von Viola Schenz

Wie die Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter verschwimmen, zeigt der Alltag: Mittvierzigerinnen kleiden sich wie ihre zehnjährigen Töchter. Vierjährige werden von Papa und Mama ins Möbelhaus gezerrt, wo sie Form und Farbe des neuen Wohnzimmersofas auswählen sollen. Da ist es nur konsequent, dass die Kulturindustrie diesen Trend aufsaugt und sich ebenfalls generationenübergreifend ausrichtet. KinderGuides heißt ein neuer Verlag in Kalifornien, der sich darauf spezialisiert, Literatur für Große in Bilderbücher für Kleine zu verwandeln: "Der alte Mann und das Meer", "Unterwegs", "Frühstück bei Tiffany", "Der Alchimist" - gehobene Erwachsenenlektüre wird sprachlich vereinfacht, auf knapp 50 Seiten geschrumpft, mit bunten Zeichnungen bestückt sowie mit einem kurzen Glossar, einer kindgerechten Textanalyse und einem Rätsel plus Auflösung angereichert. Ziel und Zweck des aufwendigen Unterfangens: Sechs- bis Zwölfjährige mit Klassikern spielerisch vertraut zu machen.

Hinter KinderGuides stecken Fredrik Colting und seine Freundin Melissa Medina. Er schreibt die Texte, sie entwirft das Szenenbuch. Ihr Mini-Verlag beansprucht nicht mehr als ein kleines Zimmer plus Küchentisch plus Garten in ihrem Haus in Silver Lake, einem Stadtteil von Los Angeles. Silver Lake ist bekannt für seine Nachtclubs und Restaurants, es gilt als "one of the city's hippest neighborhoods". Geboren ist die Geschäftsidee allerdings im vermeintlich öden, uninspirierenden Mittleren Westen. "Als wir vergangenes Jahr Verwandte in Kansas besuchten, las ich ,Der alte Mann und das Meer'", erzählt Colting. "Unsere kleine Nichte, sie war damals sechs, wollte wissen, worum es in dem Buch geht." Eine kindgerechte Kurzform des Hemingway-Romans zu improvisieren, ging erstaunlich schnell. "Da merkte ich, dass kindliche Neugier, dieser natürliche Wissensdurst, eine Marktlücke ist."

In den Kinderzimmern sind tote weiße Männer gern gesehen

Ganz neu ist die Idee nicht. In den USA gibt es seit Jahrzehnten Literaturhilfen für Schüler, Cliff Notes oder Spark Notes etwa, die große Romane und Dramen zusammenfassen, vereinfachen, erklären. Oder BabyLit, gegründet 2015, ein Verlag, der aus der Odyssee oder der Schatzinsel Bilderbücher für Kleinkinder macht. KinderGuides ist eine Mischung aus beidem, für Schulkinder und zum Selberlesen. "Wir verstehen uns als Studierhilfe", sagt Colting. Vor einem halben Jahr sind Colting und Medina gestartet, 20 000 Bücher sind inzwischen gedruckt, die Hälfte davon ausgeliefert, zum Ladenpreis von 16,95 Dollar. Nachfrage gibt es genug bei den ehrgeizigen Mittelklasse-Eltern, deren Kinder schon mit zwei das Alphabet lernen müssen. Frühbildung vor dem unausweichlichen Wettbewerb um die besten Schulen, Unis, Jobs, da bleiben Buchklassiker nicht außen vor. Colting und Medina verjüngen derzeit "Stolz und Vorurteil", "Der Fänger im Roggen" und "Wer die Nachtigall stört".

Fredrik Colting, vierzig Jahre alt, stammt aus Schweden, dem Land Astrid Lindgrens, seine Mutter war Bibliothekarin und Lehrerin, "ich war immer von Hunderten Büchern umgeben". In Göteborg hatte er einen kleinen Verlag gegründet, Sachbücher über Film, Sport, Gesundheit vertrieben. Vor drei Jahren zog er nach Los Angeles. Nun gibt es freilich bereits eine Unzahl von Kinderbüchern, warum jetzt zusätzlich noch Erwachsenenlektüre? "Es gibt auch viele Filme, und dennoch werden neue Filme oder Remakes gedreht", sagt Medina. "Natürlich sollen Kinderbuchklassiker gelesen werden, aber Studien zeigen, dass der Lesedurst in der Jugend nachlässt. Deswegen sollte man die Neugier auf Weiterführendes früh wecken, damit sie sich später daran erinnern und dann zum Original greifen."

Erwachsenenbücher sind voller Erwachsenenthemen: Beziehungskrisen, Drogen, Sex, Streit, Betrug, Gewalt. Wie macht man das kindgerecht? "Nehmen wir Jack Kerouacs Unterwegs", sagt Colting, "klar, es geht da auch um Drogen und Sex, aber selbst, wenn ich das Buch einem Erwachsenen erklärte, würde ich das nicht gleich erwähnen, weil das nicht relevant genug ist. Worum es geht, sind Freiheit und Selbstentdeckung, das gilt es rüberzubringen." Auch in klassischen Kindermärchen wimmelt es schließlich vor Grausamkeit, Traurigkeit, Mord, Betrug und Hunger.

KinderGuides oder BabyLit verlegen Werke neu, die eine linke amerikanische Kulturpolizei in den vergangenen 30 Jahren auf den Index setzte, weil sie von toten weißen Männern geschrieben wurden und nur deren Sichtweise spiegelten. Jetzt kehren die Klassiker durch die Kinderzimmertür zurück.

© SZ vom 04.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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