Wer gern liest, weiß: Gute Literatur macht etwas mit ihren Lesern. Sie erzählt ihnen im besten Fall nicht einfach eine gute Geschichte, sondern auch etwas darüber, wer sie sein könnten oder möglicherweise keineswegs sein wollen. Wer mit Kindern liest, weißt das erst recht: Man sollte die Vorbildfunktion fiktiver Figuren zwar nicht überbewerten - aber in jungen Köpfen ist das Band zwischen Realität und Fiktion doch eher eng geknüpft. Was die kleine Maus mit dem Grüffelo erlebt oder wie Max die wilden Kerle besänftigt, steht in der inneren Landschaft kleiner Leser oft ebenbürtig neben all den Menschen und Erlebnissen, die ihnen ihr reales Kinderleben beschert.
Eine große Datenrecherche der SZ durch die Kinderbuchliteratur der letzten fast siebzig Jahre hat gezeigt, dass junge Leserinnen und Leser überwiegend in Welten gelangen, deren innerliche und äußerliche Ausstattung stark vom Geschlecht der Hauptfiguren, aber auch der Adressaten und Adressatinnen bestimmt wird. Überspitzt gesagt: Bücher, die sich an Mädchen richten, versprechen vor allem Alltag und Emotion; Bücher, die Jungen ansprechen, locken mit Abenteuern und verschonen ihre Protagonisten mit Beziehungsfragen.
Diese Erkenntnis ist in einer Zeit, in der Rollenverständnisse und Geschlechteridentitäten so intensiv diskutiert werden wie wohl nie zuvor, nicht sehr ermutigend. Pädagogik und Sozialforschung wissen, dass gesellschaftliche Verhältnisse auch durch individuelle Vorstellungsräume zementiert oder eben durchbrochen werden. Hinzu kommt Bedauern: Denn oft sind es gerade die klassischen Lieblingsbücher, in denen Stereotype dominieren oder zumindest latent - in Gestalt grober Väter, superhäuslicher Schwestern oder hysterischer Lehrerinnen - eine Rolle spielen.
Man kann die Frage, wie die Geschlechter in einem Kinderbuch dargestellt werden, ernst nehmen, ohne deshalb die eigene Bibliothek nach Genderfallen zu durchforsten oder sämtliche Klischees strengstens aus dem Kinderzimmer zu verbannen. Als erwachsener Vorleser bietet man Kindern aus verschiedenen Gründen ein Buch an: Weil man es selbst als Kind geliebt hat, weil man die Sprache, die Illustration oder die Geschichte besonders ansprechend findet und manchmal auch, weil man eine neue Perspektive eröffnen möchte. Daran muss auch nicht etwas ändern, wer Kindern eine ausgewogene, geschlechtergerechte literarische Kost anbieten will. Da ginge doch zu viel verloren. Man kann aber die Palette erweitern, die Vielfalt der Entwürfe würdigen und für Kinder zugänglich machen. Zahlreiche moderne und klassische Bücher spielen auf überraschende Weise mit diesem Thema. Den Büchern, die auf dieser Seite präsentiert werden, gelingt dies mal besser, mal weniger gut. Sie liefern aber allesamt wunderbare Lektüre. Und den ein oder anderen Stoff für ein Gespräch zwischen Kind und Erwachsenem. (Meredith Haaf)
Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
Der Wert guter Kinderbücher zeigt sich ja sehr häufig daran, wie oft man sie vorlesen kann, ohne entweder innere Aggressionsschübe zu bekommen (Kann dieser Drache Kokosnuss bitte einmal nicht so oberschlau sein?) beziehungsweise ohne zu einem Rede-Roboter zu mutieren, weil bereits nach dem ersten Mal der Plot einer Geschichte komplett erfasst worden ist (Olchis, die dauerfurzen). Die Geschichte von Jim Knopf ist - nicht nur in dieser Hinsicht - ein Wunder. Über zehn Jahre drei Kindern vorgelesen, tauchen trotzdem neue Sätze auf, fängt man immer wieder an, sich wegen Nebenfiguren über grundsätzliche Fragen des Lebens zu unterhalten: Der Scheinriese Tur Tur, der schrumpft, je näher er zu einem kommt - ist das nicht ein bisschen so wie mit Ängsten, die kleiner werden, je weniger man sie von sich wegschiebt? Bislang nie ein Thema gewesen bei solchen Unterhaltungen: Die Frauen darin. Vermutlich, weil es nicht so viele gibt und diese in dem nunmehr fast 60 Jahre alten Buch klassische Rollen verkörpern: Die mütterliche Frau Waas, die strickt und flickt, die zerbrechliche Prinzessin Li Si, die zeternde Lehrerin Frau Malzahn. Aber schärft man einmal den Blick, fällt einem plötzlich das offensichtliche auf: Im Zentrum der Geschichte steht eine Lokomotive, und die ist weiblich und heißt Emma. Ohne sie und ihre Kraft und Unerschütterlichkeit hätten es Jim und Lukas nie nach Mandala und zurück nach Lummerland geschafft. Am Ende bekommt Emma ein "Kind", genau so steht es in dem Buch, Molly. Und während Emma kurz nach der Geburt schon wieder anfängt zu arbeiten und dampfend ihre Kreise zieht, kümmert sich Jim um die kleine Baby-Lokomotive. So gesehen für die damalige Zeit ein visionäres Buch. Gleich noch einmal lesen. (Mareen Linnartz)
Zogg
Es wäre natürlich ein Leichtes, die Geschlechterverhältnisse eines Märchens einfach auf den Kopf zu stellen. Aber dazu sind Julia Donaldson und der Illustrator Axel Scheffler viel zu subtile Erzähler. Es geht in "Zogg" vordergründig um eine Drachenschule, in der sich Zogg recht dumm anstellt. In den Fächern Fliegen, Brüllen, Feuerspucken verletzt er sich regelmäßig. Und immer wieder taucht ein Mädchen mit Pflastern, Verbänden und Pfefferminzbonbons zur Ersten Hilfe auf. Bis die Königsdisziplin der Drachentaten ansteht, die Urvorlage der Übergriffe, das Entführen von Prinzessinnen. Auch das schafft Zogg nicht. Doch da stellt sich heraus, das Mädchen ist eigentlich Prinzessin. Und weil sie sowieso die Schnauze voll hat von ihrer Glamourrolle im vormodernen Patriarchat, bietet sie sich für eine Übungsentführung an. Als dann der Ritter zum Drachentöten auftaucht, ein Blödian in Blech, geht die Prinzessin dazwischen und gründet mit ihm und dem Drachen die fliegenden Ärzte. Perfekte Moral von der Geschicht' - mit Rollenbildern scherzt man nicht, sondern findet für alle eine sinnvolle Aufgabe im Dienst der Allgemeinheit. Von ungefähr kommt dieses Genderspiel bei Donaldson und Scheffler nicht. In ihrem Neoklassiker "Der Grüffelo" schufen sie mit der Maus schon eine Figur mit postgender-perfekter Geschlechtslosigkeit, die mit reiner Klugheit das Böse im Wald besiegt, den Ganzkörperbartträger Grüffelo. (Andrian Kreye)
Madita
Eine der engsten Freundinnen unserer Tochter war Madita. Sicher drei Jahre lang, so zwischen sechs und neun. Madita ist die Hauptfigur in Astrid Lindgrens gleichnamigem Roman, ein mutiges, wildes, neugieriges Mädchen mit einem Herzen, größer als Schweden. Ihre kleine Schwester Lisabet sagt oft von ihr, sie sei "verdreht", weil Madita ziemlich irre Ideen hat, zum Beispiel mit einem Regenschirm vom Dach zu springen. Endet natürlich mit einem bösen Sturz. Vor allem aber - und damit bildet sie ein außerordentlich wolhtuendes Gegenbeispiel zu den meist häuslich-braven, vorsichtigen Mädchen der Kinderbuchliteratur - zieht Madita auf eigene Faust weite Kreise in der Kleinstadt, in der sie lebt, und freundet sich dabei mit Menschen an, die gar nicht den bürgerlichen Verhältnissen ihrer Familie entsprechen: Mit der Nachbarsfamilie Nilsson, die in ziemlichem Elend lebt, weil der Vater ein übler Trinker ist. Und vor allem mit Mia, einer Außenseiterin aus ihrer Klasse, die ihre Einsamkeit hinter Kratzbürstigkeit versteckt. Zwischen den beiden entwickelt sich nach anfänglichen inbrünstigen Kämpfen eine der schönsten Kinderbuchfreundschaften, die ich kenne. Und das Ganze ist so lebensecht, lustig und herzerwärmend geschrieben, dass unsere Tochter von Madita immer wieder wie von einer wirklich existierenden Freundin gesprochen hat. Einige Ausdrücke der kleinen Lisabet wohnen immer noch in unserem Familienwortschatz, "verdreht" natürlich, aber vor allem Lisabets begeistertes "Apselut!" Netterweise hat Astrid Lindgren auch noch einen zweiten Teil geschrieben. (Alex Rühle)
Toni
Eltern fürchten sie, aber Drei- bis Sechsjährige, die gerade erst mit großen Augen ihr Leben zu bestaunen beginnen, lieben Bilderbücher wie die Reihe "Meine Freundin Conni". Nicht obwohl, sondern weil darin nicht mehr passiert als das ganz Normale: Kinderalltag. Arztbesuche, Schwimmkurs, Kindergarten. Normcore. Aber hinter der Harmlosigkeit liegt natürlich ein Abgrund. Schließlich lassen sich gerade mit der Behauptung von Normalität herrschende soziale Konventionen und Geschlechterklischees unmittelbar fortpflanzen. Aber zum Glück gibt es jetzt ja "Toni", die von der Wiener Autorin und Illustratorin Verena Tschemernjak bislang noch im Eigenverlag herausgegebene Kinderbuchreihe, in der alles ganz normal und doch immer auch das entscheidende bisschen anders ist. Toni wartet auf Schnee, Toni hat zwei verschiedene Socken an - aber "Toni" ist eben auch fast unmerklich und charmant-selbstverständlich so geschrieben und gezeichnet, dass nie festgelegt wird, welchem Geschlecht Toni nun angehört. Ganz abgesehen davon, dass ebenso selbstverständlich Hausmänner auftauchen und Kinder, die zwei Mütter haben, und schwarze Menschen. Man könnte es Neo-Normcore nennen. (Jens-Christian Rabe)
Die dumme Augustine
Beim ersten Mal liest man das Bilderbuch "Die dumme Augustine" von Otfried Preußler als emanzipatorisches Meisterwerk. Schließlich geht es in der Geschichte, 1972 erschienen, um eine Clownsfrau, die von ihren Haushaltspflichten und der Kinderbetreuung recht gelangweilt ist und eines Tages in der Zirkusmanege einspringen darf, weil ihr Mann wegen Zahnschmerzen ausfällt. Sie macht das so gut, dass ihr Mann anschließend vorschlägt, von nun an gemeinsam aufzutreten. Im genauen Wortlaut sagt er: "Ich helfe dir in der Küche und bei den Kindern - und du trittst mit mir zusammen im Zirkus auf. Denn fürs Kochen und Schrubben und Wäschewaschen allein bist du viel zu schade!" Die Krux, die ganze Müttergenerationen seither in den Burn-out oder wenigstens ins nächste Achtsamkeitsseminar treibt, liegt in dem klitzekleinen Wort "helfen". Er hilft ihr im Haushalt, während sie mit ihm gemeinsam im Zirkus auftritt. Einmal volle Lohnarbeit zusätzlich bei ihr drauf - für etwas männliche Hilfe in der sogenannten Care-Arbeit. Das neue Leben der dummen Augustine ist sicherlich aufregender, aber auch anstrengender. Und gerecht ist es immer noch nicht. Dass man über die feinen Unterschiede zwischen "teilen" und "helfen" im Beziehungsalltag anhand des Buchs so gut und sogar für Kinder verständlich nachdenken kann, das macht es dann doch wieder zu einem emanzipatorischen Meisterwerk. (Vera Schroeder)
Kannawoniwasein
Einer der großen Kinderbucherfolge war jüngst "Kannawoniwasein" von Martin Muser, ein Roadmovie und Großstadtroman für Kinder, ganz in der Tradition von Erich Kästner und Wolfgang Herrndorfs "Tschik". Er erzählt von einer Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Mädchen, der bewährten literarischen Konstellation im Kinderbuch, bei dem die Genderproblematik keine Rolle spielt. Was täte der zehnjährige Finn, als er, allein auf dem Weg nach Berlin, vom Schaffner aus dem Zug geworfen wird, weil ihm sein Rucksack mit den Fahrkarten gestohlen wurde? Er wäre zur Polizei gegangen, wenn er nicht die clevere Lola getroffen hätte. Sie zeigt ihm, begeistert von diesem Abenteuer, wie man sich ohne Erwachsene auf den Weg in die "Zity" macht. Dass Finn dabei kein Held sein muss oder Lola dämlich mädchenhaft, wird wunderbar komisch erzählt. Zufall ist das nicht: Die bessere aktuelle Kinderliteratur, anders als viele von antiautoritären Ideen der Siebziger geprägte Klassiker, zeigt eine Kinderwelt ohne spezielle weibliche oder männliche Rollenverteilung, als Gegengewicht zu den Geschlechterklischees in den populären Pferdeserien oder Fußballbüchern. Die Abenteuer spielen oft in Schule und Familie, und im Mittelpunkt stehen Gruppenerlebnisse. (Roswitha Budeus-Budde)
Leon Pirat
Ich hätte dieses schmale Buch vermutlich nicht gekauft, hätte es nicht Christine Nöstlinger geschrieben, deren Autorenschaft ich geradezu blind vertraue. Denn es geht um Piraten, Schiffe und Schatzsuche, um einen aufstrebenden Jungpiraten und seinen breitbrüstigen Kapitänspapa. Und es geht kaum um seine Mama, die lieber zu Hause bleibt. Wen das nicht langweilt, der ärgert sich drüber. Aber das Vertrauen wird mitnichten enttäuscht, weil Nöstlinger diese an und für sich konventionellen Plot-Bausteine in "Leon Pirat" geradezu subversiv neu zusammensetzt. Denn Leon will ein abenteuernder Pirat vor allem wegen seines Vaters werden, aber eigentlich: Koch. Ja, kochen ist seine Leidenschaft, die in einem imaginären Männlichkeits-Weiblichkeits-Spektrum der Gegenpol zu Totenkopf und Enterhaken ist und selbst in der Gillette-Werbung nichts zu suchen hätte, geschweige denn in einer Piratenkarriere. Am Ende - bis dahin gibt es wunderbare Illustrationen und diese leicht hemdsärmelige, ebenso wunderbare Nöstlinger-Sprache - wird Leon zum Helden wie so viele Piratenjungs vor ihm. Aber kochenderweise, wie noch keiner vor ihm. In der Fortsetzung "Leon Pirat und der Goldschatz" legt Nöstlinger in emanzipatorischer Hinsicht sogar noch eins drauf und lässt auch Mama und Oma mitspielen. Schon Leons Mama ist alles andere als ein Hausmütterchen, die Oma aber war früher "Leonie, der Schrecken der Meere" und ist jetzt die Heldin. Während der einst bärbeißige Piratenpapa weite Teile des Buches depressiv und verängstigt in der Hängematte verbringt. Das ist fast schon zu ostentativ und - wie so viele Fortsetzungen - nicht mehr ganz so charmant wie Teil eins, aber immer noch herrlich für Zuhörer und für Vorleser. Und kochen tut Leon auch hier. (Sabrina Ebitsch)
Die drei Räuber
Von den Räubern sieht man zunächst nicht viel: Von oben kommt der schwarze Federhut, von unten der Mantel, in der Mitte ein Stück Nase samt grimmiger Augenpartie. Drei Mannsbilder, die die Menschheit mit Donnerbüchse, Pfeffer-Blasebalg und einem riesigen roten Beil terrorisieren: gefühllos, eiskalt, tatentschlossen. Eines Tages treffen sie auf eine leere Kutsche, darin nichts als ein Waisenkind namens Tiffany. Nichts zu rauben? Damit wendet sich die Geschichte. Tiffany hat keine Angst, findet die Räuber interessant und kommt mit ihnen mit. Die Räuber kaufen von den Schätzen früherer Beutezüge ein herrliches Schloss, bauen es zum größten Kinderheim der Bilderbuchgeschichte um. Das Buch - bisher weitgehend in Schwarz und Blau gehalten (und ein bisschen Rot für die Axt) - wird bunt. Statt Kutschen zu überfallen, fahren "Die drei Räuber" (Diogenes Verlag, 1963) von nun an selbst mit einer durchs Land und sammeln vernachlässigte Kinder ein. Und obwohl sie auch jetzt nicht mehr von sich als die Augenpartie zeigen, blickt man doch tief in die veränderten Herzen: drei weich gewordene Räuberjungs - und ihre Riesenfamilie. (Georg Cadeggianini)
Matilda
Meinem Sohn war es immer egal, ob in seinen Büchern ein Mädchen oder ein Junge die Hauptrolle spielt. Er hat sich mit Heidi identifiziert, weil er den Gedanken toll fand, auf einer Alm in den Bergen zu leben; er liebte "Ronja Räubertochter" und Jule in Gudrun Pausewangs "Räuberschule", weil beide ein wildes Leben führen, dabei aber ziemlich vernünftige Kinder sind. Seine Lieblingsheldin war lange Matilda im gleichnamigen Buch von Roald Dahl (1988). Sie ist superklug, liebt Bücher, wurde aber als Tochter boshafter Ignoranten geboren: Herr Wurmwald ist ein betrügerischer Autohändler mit grauenhaftem Geschmack und Charakter, Frau Wurmwald die passende wasserstoffblonde Gattin dazu. Diese "Familie" ist eine böse Karikatur, genauso wie die sadistische Rektorin an Matildas Schule, Fräulein Knüppelkuh, eine ehemalige Hammerwerferin, die Kinder schon mal hammerwurfartig über den Pausenhof schleudert. Weil Matilda aber nicht nur topfit im Kopf ist, sondern tatsächlich ein Wunderkind mit telekinetischen Fähigkeiten, kann sie sich gegen diese grausamen, dummen und habgierigen Erwachsenen behaupten. Dabei ist sie keine Pippi Langstrumpf, die weder Vater noch Mutter braucht. Mit ihrer Lehrerin Fräulein Honig gründet sie vielmehr selbst eine Familie, einen Frauenhaushalt, in dem es viel Liebe, warmen Tee und sehr viele Bücher gibt. ( Martina Knoben)
Sophie auf den Dächern
In einem Cellokasten auf dem Ärmelkanal treibend - so findet man das Baby Sophie nach einem Schiffsunglück. Es ist eine Szene wie aus einem Märchen - und etwas märchenhaft bleibt die ganze Erzählung, selbst wenn sie an realen Orten wie London und Paris spielt. Sophie gilt fortan als Waise, ist aber fest davon überzeugt, dass ihre Mutter noch lebt. Sie wächst bei dem liebenswerten Eigenbrötler und Bücherwurm Charles Maxim auf, der sie nach dem Unglück aufnimmt und sie lehrt, "im Leben keine Möglichkeit außer Acht zu lassen". Als das Jugendamt an ihrem zwölften Geburtstag droht, ihrem Ersatzvater die Vormundschaft für Sophie zu entziehen und das Mädchen in ein Heim zu stecken, flieht dieser mit ihr nach Paris, wo sie ihre Mutter vermutet. Ein großes Abenteuer beginnt, bei dem Sophie die Dachläufer-Kinder kennenlernt, die aus Waisenhäusern geflohen sind und nun sehr frei auf den Dächern von Paris leben und ihr bei der Suche helfen. Ein poetisch geschriebenes Buch über ein Mädchen, das unbeirrbar seiner inneren Stimme folgt. Und ein Buch, das sich auf erfrischende Weise allen typischen Mädchenbuch-Klischees entzieht. Nicht nur, weil es statt Freundeskreis oder Internat die Dächer von Paris als Schauplatz wählt, sondern auch, weil es der Autorin gelingt, alle Charaktere in diesem Buch - ob Mädchen oder Junge, Mann oder Frau - als ungewöhnliche Menschen und als sympathisch-liebenswerte Freigeister zu zeichnen. (Nina von Hardenberg)
Wölfe ums Schloss
Kinder hören sehr genau, wann man ihnen etwas vermitteln will und wann man ehrlich erzählt, so wie die im Jahr 1924 geborene Joan Aiken, die spannend schreibt, gruselig und mit einem Gespür für Stimmungen. Dass die Hauptfiguren ihres Klassikers "Wölfe ums Schloss" Mädchen sind, scheint so zufällig, wie es das Geschlecht eben ist, und Bonnie ist durchaus unkonventioneller und mutiger als ihre sanfte Cousine Sylvia. Die Kinder fallen, als sie während einer Seereise von Bonnies Eltern allein auf einem Schloss zurückgelassen werden, den Machenschaften einer Gouvernante zum Opfer, die sie in ein Waisenhaus steckt, aus dem sie in einer Ponykutsche entkommen. Wann die Geschichte spielt? In einer romantischen Vergangenheit, die sich nicht datieren lässt, in der es aber aussieht wie bei Dickens oder Shelley. Es gibt mehr als ein Dutzend Folgen, die als "Wolves Chronicles Series" lose an die Geschichte anknüpfen, nicht alle sind ins Deutsche übersetzt. Joan Aiken, die zu Lebzeiten vor allem als Autorin von Gothic- und Fantasy-Geschichten erfolgreich war und auch einige eigenartige Fortsetzungen von Jane-Austen-Romanen verfasste, hat nach den Wolves-Chronicles-Heldinnen Bonnie, Sylvia und Dido auch noch Arabel erfunden (kongenial von Quentin Blake gezeichnet), die genauso wenig Aufhebens davon macht, dass sie ein Mädchen ist. Weil sie genug damit zu tun hat, mit Mortimer auszukommen, der aber kein Junge ist, sondern ein Rabe. (Catrin Lorch)
Hänsel und Gretel
Das schönste Stück aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, das deutsche Märchen par excellence. Weil es nicht in der abgehobenen royalen Intrigenwelt spielt, sondern in der bitteren Wirklichkeit, in der auch im 19. Jahrhundert die soziale Krise mit ihren Sorgen ums Existenzminimum aktuell war. Und weil es nicht um eine singuläre Prinzessin ging, sondern um ein Team, Hänsel und Gretel, Bruder und Schwester. Sie waren durchaus für Erwachsene gemeint, haben sich den Kindern nicht angebiedert, durch Verzicht auf Modellhaftigkeit oder pädagogischen Impuls, auf spekulative Erzähleffekte und Suspense. Märchen sind, bei jedem Wiederlesen, cool in ihrer lakonischen Gelassenheit, durch den natürlichen "Verzicht auf psychologische Schattierung", den Walter Benjamin fürs gute Erzählen forderte. Der Junge hat in "Hänsel und Gretel" den tollen Trick, dass er, als die Kinder vom Vater in den Wald geführt werden, mit den Kieseln eine Spur legt, die sie dann nachts zurückführen kann zum Elternhaus. Im Hexenhaus aber ist dann Gretel gefordert, mit einem kräftigen Schubs ergreift sie die Initiative, ein Ausbruch anarchischer Energie. Man war schon als Kind durchaus empfänglich für subversive utopische Momente dieser Art. (Fritz Göttler)